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Das Dornenhaus

Das Dornenhaus

Titel: Das Dornenhaus
Autoren: Lesley Turney
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Hause. Ihr kleiner Wagen mühte sich durch die Stadt nach Montpelier, das Viertel, wo ich wohnte. Sie stellte ihn vor dem Haus ab. Meine Wohnung befand sich im ersten Stock eines ehemaligen Einfamilienhauses, das in ein Mehrparteienhaus umfunktioniert worden war, eingezwängt zwischen einem schicken Blumenladen und einer Second-Hand-Boutique. Auf der einen Seite war der Gehsteig mit Ständern voller farbenfroher Kleider und Hemden zugestellt und auf der anderen Seite mit dunkelgrünen Plastikübertöpfen mit Lilien, Narzissen und Tulpen.
    Rina half mir aus dem Wagen, legte einen Arm um mich und schob mich zur Haustür, dann in den Flur und die schmale, mit einem Teppich bedeckte Treppe in den ersten Stock hinauf.
    In meiner Wohnung angekommen, fühlte ich mich ein wenig besser. Die vertraute Umgebung mit den gedämpften Farbtönen beruhigte mich. Lily, meine kleine graue Katze, strich mir um die Waden, und ich hob sie auf den Arm und barg das Gesicht in ihrem weichen Fell.
    »Leg dich hin, ich mach dir inzwischen Tee«, sagte Rina.
    »Ach lass, es geht schon wieder.«
    »Bitte tu, was ich dir sage. Lass mich dich ruhig ein wenig bemuttern.«
    Rina schubste mich sanft in Richtung Schlafzimmer.
    Im Flur zog ich die Schuhe aus und tappte barfuß ins Schlafzimmer. Dort schloss ich die Vorhänge und legte mich aufs Bett. Sofort wurde ich von einer bleiernen Müdigkeit überwältigt; es fühlte sich an, als hätte sich mir ein schweres Gewicht auf die Brust gelegt. Ich zog die Bettdecke bis zum Kinn hoch, ließ den Kopf schwer aufs Kissen sinken und spürte, wie sich die Matratze meinem Körper anpasste. Die Katze knetete schnurrend mit den Pfoten die Bettdecke. Ich versuchte, mich zu entspannen, aber die Gedanken wirbelten wild in meinem Kopf herum. Als Rina ungefähr zehn Minuten später mit einem Glas Kamillentee ins Zimmer kam, war ich noch immer wach.
    »Warst du mit dieser Frau eng befreundet?«, fragte Rina, während sie sich über mich beugte und mir über die Stirn strich wie einem fiebernden Kind. Ihr Atem roch nach Pfefferminze.
    »Wir waren wie Schwestern. Nein, noch enger verbunden als Schwestern.«
    »Es muss schlimm für dich gewesen sein, sie zu verlieren.«
    »Ja, das war es.«
    Ich drehte den Kopf zum Fenster. Es war einen Spaltbreit geöffnet, und die cremefarbenen Vorhänge bauschten sich sachte im hereinwehenden Luftzug, hoben und senkten sich, als atmeten sie. Von draußen drangen die vertrauten Geräusche herein – Autoverkehr, Kinderstimmen, Musik, Hundegebell und aus der Küche des Restaurants etwas weiter die Straße hinunter betriebsames Geklapper.
    »Wie, sagtest du, hieß sie noch mal?«
    »Ellen Brecht.«
    »Was ist ihr zugestoßen, Hannah?«
    »Es war ein Unfall. Sie ist ertrunken.«
    »Oh, wie schrecklich. Warst du dabei?«
    »Nein. Damals war ich in Chile. Ich habe es erst einige Zeit später erfahren.«
    Rina strich die Bettdecke glatt. Also hattest du keine Gelegenheit, Abschied von ihr zu nehmen?«
    »Nein.«
    »Warst du mit ihr zerstritten?«
    »Wieso fragst du das?«
    »Nun, schließlich bist du weggezogen.«
    »Es war ein Missverständnis«, sagte ich, wobei diese Erklärung nicht annähernd beschrieb, was zwischen Ellen und mir vorgefallen war. »Ich dachte, ich könnte die Sache zwischen uns wieder in Ordnung bringen. Dass ich noch genügend Zeit hätte, aber dem war nicht so.«
    Rina seufzte. »Solche Dinge passieren. Mädchen können sehr leidenschaftlich sein.«
    Sie legte ihre flache Hand auf die Bettdecke.
    »Ist heute irgendetwas geschehen, was dich an Ellen erinnert hat?«, fragte sie.
    »Nein, aber ich habe gestern Nacht von ihr geträumt.«
    »Siehst du, bestimmt hängt es damit zusammen.«
    Es war jedoch nichts Ungewöhnliches, dass ich von Ellen träumte. Ich träumte fast jede Nacht von ihr und Thornfield House. In meinem letzten Traum war das Haus halb verfallen gewesen, das Dach eingestürzt, die Fensterscheiben waren zerbrochen, und die grauen, zerschlissenen Vorhänge wehten zwischen den übrig gebliebenen Glasscherben hindurch. Die Bäume und Pflanzen des Gartens waren schwarz verkohlt, von Spinnweben und Asche übersät. Ich wanderte durch die leeren Zimmer, wo vertrocknete Blumen auf den blutverschmierten Holzdielen verstreut lagen, und rief nach Ellen. Ich wusste, dass sie irgendwo im Haus war, ich hörte sie weinen, konnte jedoch nicht sagen, woher die Stimme kam. Während ich von Raum zu Raum ging, machten meine Sohlen quietschende Geräusche auf dem
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