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Das Dornenhaus

Das Dornenhaus

Titel: Das Dornenhaus
Autoren: Lesley Turney
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blutbefleckten Boden. Auch an meinen Händen war Blut, und wenn ich mich an der Wand abstützte, hinterließen sie rote Abdrücke. Klaviermusik umwaberte mich wie Nebel; es war ein Requiem. Dann verklang die Musik, und nur noch Ellens herzzerreißendes Weinen war zu hören. Ellen! , rief ich. Wo bist du? Plötzlich war Mr   Brecht hinter mir. Er umfasste mich von hinten mit den Armen, küsste mich auf den Hals, auf die Stelle unterhalb des Ohrs, und ich schmiegte mich seufzend an ihn. Wir standen vor dem Spiegel auf dem Flur vor Ellens Zimmer. Doch als ich den Kopf hob und hineinblickte, war nicht mein Gesicht darin zu sehen, sondern Ellens, deren Haut gräulich grün war. Ihr Haar umfloss sie, und durch ihre geöffneten Lippen und ihre leeren Augenhöhlen schossen kleine silberne Fische pfeilschnell heraus und hinein.
    Rina sagte: »Hannah, sch, beruhige dich«, und mir wurde bewusst, dass ich laut geschrien hatte.
    »Tut mir leid«, murmelte ich.
    Rinas Gesichtsausdruck verriet Besorgnis.
    »Vielleicht solltest du mal ausspannen, Hannah«, sagte sie. »Du arbeitest so viel, Liebes, und ich kann mich nicht erinnern, wann du zuletzt Urlaub hattest. Warum nimmst du dir nicht ein paar Tage frei?«
    »Ja«, sagte ich. »Du hast recht. Das mache ich vielleicht.«
    »Gut. Denk jetzt an etwas Schönes. Überleg dir einen Ort, wohin du gern reisen würdest. Aufs Land vielleicht? Oder lieber an die Küste?«
    Während ich in meinem warmen, bequemen Bett lag, ließ ich mich von Rinas Gegenwart beruhigen. Ich wusste, dass ich jetzt würde schlafen können. Lily tapste auf das Kopfkissen, drehte sich mehrmals im Kreis und rollte sich dann neben meinem Kopf zusammen. Eine Weile noch beobachtete ich, wie sich der Vorhang sanft bauschte. Ich rief mir ins Gedächtnis, wie ich Ellen zum ersten Mal gesehen hatte, an einem strahlend sonnigen Tag, dem Tag, an dem unsere Geschichte begann, der Anfang vom Ende.

VIER

    E s war ungefähr zwei Jahre nachdem Jago und ich mit Mrs   Withiel gesprochen hatten. Die Bilder meiner Erinnerung aus dieser Zeit sind klarer und schärfer als die früheren: Schnappschüsse, die an den Rändern zwar ein wenig vergilbt, aber ordentlich in einem Karton abgelegt sind. Es war in den Sommerferien. Ich war zehn und Jago zwölf Jahre alt. Jago wohnte nach wie vor mit seiner Tante und seinem Onkel, Caleb und Manda Cardell, in dem Haus neben unserem, und wir waren die einzigen Kinder in Trethene, unserem Dorf. Mrs   Withiel war einige Zeit zuvor gestorben, und Thornfield House war verlassen, die Fenster und Türen zugenagelt, dem Verfall überlassen, wie mein Vater sagte. Und das tat es auch, es verfiel zusehends.
    In der Nacht zuvor hatte es bei den Cardells Streit gegeben. Dad hatte Nachtschicht – er arbeitete bei RAF Culdrose, einer Station der Royal Air Force. Mum und ich waren zu Hause und bemühten uns tapfer, die Ohren vor dem zu verschließen, was im Nachbarhaus vor sich ging. Wenn wir ein Telefon gehabt hätten, hätte meine Mutter vielleicht um Hilfe gerufen, aber damals verfügte keines der Cottages der Sozialsiedlung in der Cross Hands Lane über einen Telefonanschluss. Wahrscheinlich hätte es sowieso nichts geändert. Die Menschen in Trethene mischten sich nicht in anderer Leute Angelegenheiten ein. Aber als schließlich etwas oder jemand mit solcher Wucht gegen die Mauer prallte, die unser Haus von dem der Cardells trennte, dass die Bilder an unserer Wand an ihren Haken verrutschten, sagte Mum: »Ich halte das nicht mehr aus.« Ohne einen konkreten Plan zu haben, zog sie ihren Mantel an und wollte das Haus verlassen, als das Geschrei mit einem Mal erstarb. Mum und ich gingen nach oben und schauten zum Fenster meines Zimmers hinaus. Von dort sahen wir, in bläulich silbernes Mondlicht getaucht und in ihrer dünnen Jacke fröstelnd, Mrs   Cardell im Hinterhof stehen und eine Zigarette rauchen. Mr   Cardell trat ebenfalls heraus. Der Hund hatte sich unter dem Kaninchenstall versteckt. Mr   Cardell legte die Arme um seine dünne Frau, drückte sie an sich und küsste sie auf das krause gelbliche Haar. Eng umschlungen standen sie da und wiegten sich vor und zurück. Die rot leuchtende Spitze des Zigarettenstummels, den Mrs   Cardell hatte zu Boden fallen lassen, blinkte in der Dunkelheit.
    Nach solchen Auseinandersetzungen verließ Mrs   Cardell gewöhnlich für mehrere Tage nicht das Haus. Wenn sie Zigaretten brauchte, schickte sie Jago ins Dorf, um welche zu holen.
    Als ich am nächsten
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