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Das Dornenhaus

Das Dornenhaus

Titel: Das Dornenhaus
Autoren: Lesley Turney
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die ihn umgab. Beim Gedanken an die alte Frau, die mutterseelenallein in der Dunkelheit gelegen hatte, durchlief mich ein Schauer des Entsetzens. Etliche Male war ich an Thornfield House vorbeigegangen, als sie bereits tot gewesen war, und dieses Wissen machte mir Angst. Fröstelnd schlang ich die Arme um den Körper.
    »Komm, weiter!«, rief Jago leise. Er lief die Treppe hinauf, und ich folgte ihm in eines der vorderen Zimmer. Die Wände waren mit einer Tapete mit rosa und grünem Blumenmuster bedeckt. Es war bis auf die Stellen, wo Möbelstücke es vor der Sonne geschützt hatten, größtenteils verblichen. Jago kniete sich hin und spähte in ein Mauseloch in der Fußbodenleiste. Ich trat an das staubbedeckte Fenster. Glyzinienblüten rahmten wie Papiergirlanden den Ausblick ein. Langsam tuckerte ein Lastwagen auf der schmalen Straße heran und hielt vor dem Haus. Über die Gartenmauer hinweg konnte ich das obere Drittel des Wagens erkennen. Plötzlich spürte ich, mehr, als dass ich es hörte, wie jemand das Zimmer betrat, und als ich mich umdrehte, erblickte ich ein Mädchen; Ellen.
    Sie musste ungefähr in meinem Alter sein und war etwa gleich groß, aber das war es dann auch schon mit unseren Gemeinsamkeiten. Ellen hatte langes dunkles Haar und einen Pony, der ihr bis zu den dunklen Augen reichte. Sie war zart gebaut, langbeinig, trug Jeansshorts und ein ärmelloses grünes T-Shirt. Da sie barfuß war, sah man ihre grün lackierten Zehennägel. Im Vergleich zu ihr fühlte ich mich plump mit meinem blonden Haar, dem rosa Teint, meinem kräftigen Körperbau, dem Babyspeck und meiner von Schweiß klebrigen Haut. Und das pastellfarbene gestreifte T-Shirt und die Frotteeshorts machten es auch nicht besser.
    Noch nie war ich einem Kind meines Alters begegnet, das so selbstbeherrscht war wie dieses Mädchen; im Vergleich zu ihr kam ich mir wie ein Baby vor. Ich zog die Beine meiner albernen Kleinkind-Shorts ein wenig herunter. Der Gummizug spannte um meinen Bauch. Ich wünschte, ich hätte mir an diesem Morgen keine rosa Bommeln ins Haar geflochten. Ich wünschte, mir wäre nicht so heiß.
    Jago rappelte sich auf, klopfte sich die Hosenbeine ab und räusperte sich. Er leckte sich nervös über die Lippen, spürte drohendes Unheil. Von draußen drangen die Stimmen von Erwachsenen und das Rattern eines schweren Motors herein. »Links etwas weiter herunter!«, rief jemand. »Passen Sie auf die Wand auf.«
    »Wer seid ihr?«, fragte das Mädchen. »Was macht ihr hier?« Sie hatte einen fremden, wohlklingenden Akzent; ihre Aussprache war akzentuierter als unsere.
    »Wir haben nur nachgeschaut, ob alles okay ist«, sagte Jago mit gewichtiger Stimme. Er tat, als wäre er älter, versuchte, bei dem Mädchen Eindruck zu schinden. Ich sah ihn stirnrunzelnd an. »Und was ist mit dir?«, fragte er betont lässig. »Warum bist du hier?«
    Das Mädchen lachte ein wenig gekünstelt und schob das Haar über die Schultern zurück. Auch sie wollte uns beeindrucken. »Ich heiße Ellen Brecht. Das Haus hat meiner Großmutter gehört, aber jetzt werden wir hier wohnen.«
    »Die alte Frau war deine Großmutter?«
    »Ja.«
    »Sie hat uns von dir erzählt.«
    Ellens Augen weiteten sich. »Ach ja, hat sie das?«
    »Sie hat gesagt, dass du sie nie besuchst.«
    »Ich konnte nicht.«
    Ellen ging zum Fenster. Sie zog die Gardine ein wenig zur Seite und ahmte damit unwissentlich die Pose ihrer Großmutter nach, wenn diese am Fenster gestanden und hinausgeblickt hatte. »Meine Mama hat sich immer Sorgen um Großmutter gemacht. Aber ich hab ihr gesagt, dass es ihr bestimmt gut geht. Das stimmt doch, oder? Sie war doch nicht einsam?«
    Jago und ich tauschten Blicke aus. Dann kratzte er sich eine schorfige Stelle an seinem Ellbogen; er litt unter einem Hautekzem. Konnte es sein, dass Ellen die Umstände vom Tod ihrer Großmutter nicht kannte?
    »Als wir sie zuletzt gesehen haben, ging es ihr, glaub ich, noch gut«, sagte Jago. »Aber … sie hat komisches Zeug geredet.«
    Ellen ließ die Gardine wieder los.
    »Was für komisches Zeug?«
    Jago sah sich im Zimmer um. »Keine Ahnung. Über den Teufel, der dich von ihr fernhält … und so was.«
    »Das ist doch Unsinn! Wir konnten sie nicht besuchen kommen, weil wir in Deutschland gelebt haben, das ist alles.«
    Plötzlich schämte ich mich. Ich warf Jago einen finsteren Blick zu, und er zog ein Gesicht.
    »Wie heißt ihr?«, fragte Ellen.
    »Ich heiße Jago und das ist Hannah.«
    »Seid ihr
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