Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Dornenhaus

Das Dornenhaus

Titel: Das Dornenhaus
Autoren: Lesley Turney
Vom Netzwerk:
zu reden.
    Jago war zwei Jahre älter als ich, ein schlaksiger, schmuddeliger Junge. Von hinten sah man seine Segelohren und das nach allen Seiten abstehende rotblonde Haar, das seine Tante ihm mit der Küchenschere abschnippelte. Sein langer, dünner Hals war zum Teil von seinem zotteligen Haar bedeckt. Das Hemd war ihm zu klein, seine Hose abgetragen und an den Säumen abgewetzt. Seine Hände, die zu groß für seine Arme schienen, baumelten seitlich herab.
    Ängstlich schlich ich hinter ihm her und blieb ein paar Schritte hinter ihm stehen.
    Die Hexe, Mrs   Withiel, war gebeugt und zitterte. Sie trug eine lange graue Strickjacke über einem taubenblauen Kleid mit einer seitlichen Knopfleiste, deren Knöpfe falsch geknöpft waren, und schmutzige alte Tennisschuhe. Ihr Haar war dünn und weiß.
    »Warum lauft ihr Kinder immer vor mir weg?«, fragte sie. »Wann immer ich mit euch reden will, rennt ihr davon.«
    Jago sah auf seine Füße. Er konnte der alten Dame ja nicht sagen, dass wir vor ihr davonliefen, weil wir ihren bösen Blick fürchteten.
    »Ich mag Kinder. Ich habe selbst eine Tochter und eine Enkelin.« Mrs   Withiel sah mich an. »Sie dürfte ungefähr in deinem Alter sein, Kleine.«
    »Das ist schön«, sagte Jago höflich. »Wohnen sie in Trethene?«
    »O nein. Nein, nein.« Sie knetete die Hände. »Sie sind schon vor langer Zeit weggegangen. Der Teufel ist gekommen und hat mir meine Tochter weggenommen. Er hat sie mir gestohlen, sie und das Kind. Ich weiß nicht, wo sie jetzt sind. Ich bekomme nicht einmal eine Weihnachtskarte von ihnen. Keinen Brief, rein gar nichts. Er ist böse, müsst ihr wissen, durch und durch böse.«
    Die Stimme der alten Dame wurde immer höher und nahm einen nasalen Klang an, bis sie schließlich kaum mehr zu hören war. Mir wurde übel. Ich dachte, dass Mrs Withiel vielleicht nicht ganz richtig im Kopf sei, mit ihrem Gerede vom Teufel und dem Bösen. Oder sie war tatsächlich eine Hexe.
    Jago warf mir einen verstohlenen Blick zu. Ich versuchte, ihm mit den Augen zu bedeuten, dass wir schleunigst von hier wegmussten.
    »Es ist ein Jammer, dass Sie keinen Kontakt mehr zu Ihrer Familie haben«, sagte Jago, während er mit der Schuhspitze ein Büschel Unkraut bearbeitete, das in der gekiesten Auffahrt wuchs. Dann fragte er: »Ist es in Ordnung, wenn ich jetzt meinen Schulranzen hole?«
    »Ja, ja«, sagte die alte Dame. Sie deutete mit einer wedelnden Handbewegung zum Ranzen, dann sah sie mich wieder an. »Du kommst mich doch mal besuchen, nicht wahr?«, fragte sie. »Komm doch mal vorbei, um mit mir zu plaudern. Ich hab Kinder ja so gern, vor allem kleine Mädchen. Nächstes Mal werde ich auch Plätzchen dahaben, meine Kleine.«
    Ich bemühte mich zu lächeln, aber es fühlte sich nicht wie ein Lächeln an.
    »Schokovanilleplätzchen«, sagte sie. »Das waren die Lieblingsplätzchen meiner Tochter. Magst du Vanille, meine Kleine?«
    Ich nickte.
    »Also, vergiss es nicht. Komm mich besuchen. Du wirst mich doch besuchen, nicht wahr? Versprich es mir.«
    »Ja«, sagte ich sehr leise.
    Der Schulranzen war in einem von Brennnesseln überwucherten Teil des Gartens gelandet, und Jago zog ihn an einem Riemen heraus. Als er wieder bei mir ankam, wandten wir uns um und gingen langsam zum Tor zurück. Dort drehten wir uns noch einmal um und winkten der alten Dame zum Abschied zu, doch kaum waren wir hinter der Mauer ihren Blicken entkommen, rannten wir los, als wäre uns der Teufel auf den Fersen. Wir liefen zur Kreuzung und dann die Straße hügelabwärts in die Cross Hands Lane, wo wir wohnten.
    Noch einige Zeit danach machten wir uns über diese merkwürdige Begegnung mit der »Hexe« lustig.
    »Ich mag Kinder ja so gern«, sagte Jago dann immer mit gruselig krächzender Stimme. »Vor allem … zum Frühstück!« Und er ließ seine klauenartig gekrümmte Hand vorschießen, als wolle er mich packen. Ich hielt mir vor Lachen den Bauch.
    Obwohl ich fast jeden Tag an Thornfield House vorbeikam, besuchte ich Mrs   Withiel nie. Ich wagte nicht einmal, zu den Fenstern hinaufzublicken, um zu sehen, ob sie dort stand und wartete, dass ich hineinkäme, um mit ihr zu plaudern. Und ich versuchte, nicht an die Plätzchen zu denken, die sie wahrscheinlich gekauft hatte und die inzwischen alt und weich geworden waren.

DREI

    A n diesem Nachmittag gelang es mir nicht mehr, mich von dem Erlebnis im Museum zu erholen; ich schaffte es einfach nicht, mich zusammenzureißen. Rina fuhr mich nach
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher