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Das Christentum: Was man wirklich wissen muss (German Edition)

Das Christentum: Was man wirklich wissen muss (German Edition)

Titel: Das Christentum: Was man wirklich wissen muss (German Edition)
Autoren: Christian Nürnberger
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Europa.
    Dann fiel uns 1990 die deutsche Einheit in den Schoß, verschwand die kommunistische Bedrohung aus dem Osten, womit auch der Zwang des Wettrüstens entfiel, und wir erwarteten die Friedensdividende. Seit rund anderthalb Jahrzehnten gehören nun auch das östliche Mitteleuropa und Osteuropa zu uns. Heute leben wir in einer Friedenszone, die sich von Irland bis zur Ukraine erstreckt, vom Nordkap bis in die Ägäis. Europas Völker verzichten schrittweise auf ihre politische Souveränität, verschränken ihre Volkswirtschaften miteinander, begeben sich in gegenseitige Abhängigkeit, und je länger dieser Prozess fortschreitet, desto unwahrscheinlicher wird es, dass Konflikte jemals wieder kriegerisch ausgetragen werden – welch ein gewaltiger Entwicklungssprung!
    Ein zweites Ziel ist schon seit so vielen Jahrzehnten realisiert, dass uns sein ursprünglich utopischer Charakter gar nicht mehr bewusst ist: die volle Teilhabe der Arbeitnehmer an politischen Entscheidungsprozessen, an Kultur und Bildung, sowie die möglichst gerechte Verteilung des durch Arbeit erwirtschafteten Wohlstands. Tatsächlich wurde fast alles, was die ersten Arbeitervereine des 19. Jahrhunderts als Ziele in ihre Programme hineingeschrieben hatten, in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verwirklicht.
    Ein drittes, vor hundert Jahren utopisch erscheinendes Ziel ist auf einem guten Weg: die volle Gleichberechtigung der Frau. Die ehemalige Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts, Jutta Limbach, hat diesen Fortschritt 1997 so formuliert:

Im Gegensatz zu unseren Urgroßmüttern dürfen wir politische Versammlungen besuchen. Im Gegensatz zu unseren Großmüttern dürfen wir Universitäten besuchen, Ärztinnen, Richterinnen und Professorinnen werden. Im Gegensatz zu unseren Müttern haben wir ein gleichrangiges elterliches Sorgerecht und das Recht, erwerbstätig zu sein. Im Gegensatz zu uns Älteren haben unsere Töchter das Recht, ihren Mädchennamen zu behalten, wenn sie heiraten, und sie können, wie auch die Väter, Erziehungsurlaub nehmen, wenn sie ihr Kind in den ersten Jahren selbst versorgen möchten.  1

    Das Einzige, das noch nicht klappt, ist die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, aber daran wird gerade gearbeitet. Dass nur jede vierte Frau finanziell unabhängig ist, nur 3,7 Prozent aller deutschen Frauen einen Chefsessel erklimmen und nur 1,6 Prozent der Männer Erziehungsurlaub nehmen, zeigt zwar, dass die Emanzipation noch lange nicht abgeschlossen ist – ja, in zahlreichen Machokulturen Osteuropas und in außereuropäischen Ländern hat sie noch nicht einmal begonnen. Dennoch darf trotz der nach wie vor männerdominierten Gegenwart behauptet werden: Die Gleichberechtigung der Frau ist, zumindest in der westlichen Welt, das größte neuere Ereignis der Weltgeschichte, auch wenn es bis zum Erreichen des angestrebten Ziels – die Hälfte der Welt für die Frauen – noch ein bisschen dauern wird.
    Das vierte, ebenfalls im Programm der Arbeitervereine aufgeführte und heute erreichte Ziel – der Sieg über die Armut, die finanzielle Absicherung gegen Arbeitslosigkeit, Krankheit und Alter – wird nicht mehr gefeiert, sondern relativiert: Denn derzeit werden diese Errungenschaften beschnitten, es gibt eine wachsende Armut, besonders unter Alleinerziehenden, Familien mit vielen Kindern und alten Menschen. Manchem dünkt schon, dass den kleinen Leuten peu à peu alles wieder genommen wird, was während der letzten hundert Jahre erkämpft wurde, aber diese Angst ist übertrieben.
    Drei Viertel der heutigen Weltbevölkerung priesen sich glücklich, wenn sie in den Genuss jenes Zustands kämen, der heute bei uns als Armut definiert wird. Und die Zehntausende von Flüchtlingen, die täglich aus ihren Armutsregionen aufbrechen, um unter Einsatz ihres Lebens über Tausende von Kilometern an die Grenzen Europas zu gelangen und diese zu überwinden, teilen uns mit: Unser Land ist das Land ihrer Sehnsucht. Hier vermuten sie das bessere Leben. Die es schaffen, bei uns Fuß zu fassen, sind dann oft enttäuscht. So, wie sie es sich erträumt haben, ist dieses Europa ja gar nicht. Trotzdem will keiner zurück, denn das, was vom Traum übrig bleibt, ist immer noch besser als das, wovor sie geflohen sind.
    Die zweifellos vorhandenen Probleme in unserer Region – Arbeitslosigkeit, Armutsverwahrlosung, aber auch Wohlstandsverwahrlosung, die Bildungs- und Erziehungsmisere – ändern nichts am prinzipiellen Befund: Wir sind Bewohner
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