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Das Buch von Eden - Die Suche nach dem verlorenen Paradies

Titel: Das Buch von Eden - Die Suche nach dem verlorenen Paradies
Autoren: Kai Meyer
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ugenbrauen leuchteten große, hellgrüne Augen. Ihr Gesicht war schmal, doch nicht so zerbrechlich wie das der geschnitzten Muttergottes hinter dem Altar der Abteikirche.
    Libuse sah aus wie ein Mädchen, das auf dem besten Wege war, eine Frau zu werden. Aelvin hoffte, sie würde immer so bleiben, wie sie an diesem Tag war; und immer wieder in diesen Wald zurückkehren, zu diesem Baum; und niemals bemerken, dass er sie beobachtete, oder, Gott, vielleicht doch, und dann würde sie lächeln und mit ihm sprechen und vielleicht gar ein wenig näher kommen, noch ein wenig, und, ja, dann würde sie seine Hand nehmen oder er die ihre, und dann, in jener fernen oder auch nahen – hoffentlich, hoffentlich nahen – Zukunft, würde er sehen, wie sich ihre Lippen ganz leicht öffneten, nur für ihn, und dann würde er den letzten Schritt gehen und – Libuse begann mit der Beschwörung.
    Er wusste nicht, wie sie es tat, nicht einmal genau, was sie da tat. Es war das Gleiche, jedes Mal, wenn sie herkam.
    Aber heute ist sie nicht allein, vergiss das nicht. Nicht allein.
    Sie kauerte zwischen den Wurzeln der Eiche. Der Schnee knirschte und gab nach. Die Kälte schien ihr nichts anhaben zu können. Mit ihren Handschuhen scharrte sie das Eis beiseite, bis das schwarzbraune Wurzelholz zum Vorschein kam wie Adern unter totenbleicher Haut. Sie legte die Hände auf zwei armdicke Stränge und beugte den Kopf vor, so weit, dass ihr dunkelrotes Haar sich wie ein Schleier vor ihre Züge legte und die gewellten Spitzen den Schnee berührten. So kniete sie da, reglos, wortlos, mit tief gebeugtem Rücken, und lange Zeit bewegte sich nichts mehr dort unten. Sie hätte tot sein können, erfroren, wären da nicht die weißen Atemwölkchen gewesen, die in ruhigem, gleich bleibendem Rhythmus unter der Haarflut empordampften und verrieten, dass noch Leben in ihr war.
    Vergiss nicht, jemand ist hinter dem Wall! Irgendwer versteckt sich dort. Vielleicht um sie vor heimlichen Beobachtern zu schützen.
    Aelvin wusste, was als Nächstes geschehen würde. So war es immer, wenn sie den alten Göttern des Waldes huldigte.
    Die Veränderung vollzog sich langsam.
    Aelvins Herz dagegen schlug immer schneller.
    Die Schatten unter Libuses Körper versickerten zwischen den Wurzeln der Eiche, wie Tinte in den Dielen des Skriptoriums, wenn Aelvin oder einer der anderen Schreiber ein Gefäß umstieß.
    Nach wenigen Atemzügen waren die Schatten fort. Aus dem Holz der Wurzelstränge, aus der schartigen, borkigen Rinde, stieg ein Lichtschein auf, ein sanfter goldener Schimmer, der erst Libuse beschien, das Innere ihrer Haarflut zum Glühen brachte und schließlich in den sattgelben Tönen des Sonnenaufgangs die Senke erfüllte. Das Licht strahlte aus den Winkeln der Wurzeln, dort, wo sie ineinander mündeten, verschlungen waren, sich kreuzten oder miteinander verwuchsen.
    Es war kein Feuer, nichts, das verzehren oder brennen konnte; es war pures, reines Licht, und es kam aus dem Inneren des Baumes. Der goldene Schein stieg aus den Tiefen seines uralten Holzes herauf, durchbrach die Rinde in Spalten und haarfeinen Rissen und badete die Senke und das rothaarige Mädchen in Helligkeit und Wärme.
    Der Schnee begann zu schmelzen, rund um den Baum, rund um Libuse. Rinnsale reflektierten den überirdischen Glanz. Wasser sammelte sich und wurde aufgesogen, durchadert von Gold.
    Aelvin sah kaum auf das Licht, denn er kannte es längst. Sah nicht auf den Baum, denn auch er war ihm vertraut. Er starrte nur Libuse an, die wundersame, verzauberte Libuse auf den Knien inmitten des Gleißens und Glosens, umspiel t v on Strahlen, die jetzt als breite Fächer zwischen den Wurzeln flirrten.
    Laute ertönten. Hinter Aelvin!
    Ein Schnauben und Fauchen. Scharrende Füße.
    Dann das Brechen von Zweigen, gefolgt von einem infernalischen Toben. Das Unterholz explodierte.
    Aelvin wirbelte herum. Zweige schlugen ihm ins Gesicht, eine Wolke aus Schnee und vertrocknetem Laub. Er stolperte rückwärts, aus seinen Träumen von Libuse gerissen wie von einer kräftigen Hand, die ihn an der Kutte packte und aus dem goldenen Licht in die frostklirrende Wirklichkeit zerrte.
    Ihr Vater, schoss es ihm durch den Sinn. Er hat mich entdeckt.
    Aber es war keine Hand. Und es war nicht ihr Vater.
    Noch während ihm das bewusst wurde, traf sein Fuß nichts als Leere. Das verwobene Unterholz in seinem Rücken fing ihn auf, hielt ihn mehrere Herzschläge lang in der Schwebe – und gab nach.
    Schreiend stürzte
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