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Das Buch ohne Staben - Anonymus: Buch ohne Staben - The Eye of the Moon

Titel: Das Buch ohne Staben - Anonymus: Buch ohne Staben - The Eye of the Moon
Autoren: Anonymus
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Antwort bekommen.
    Als er die Statue des großen, wenngleich ein wenig mürrisch dreinblickenden griechischen Kriegers passiert und das Ende der sandfarbenen Wand umrundet hatte, sah er, dass die Holzpuppe in einiger Entfernung vom Flügel auf dem Rücken am Boden lag, als hätte jemand sie mit beträchtlicher Kraft gepackt und weggeschleudert. Sie trug eine purpurrote Jacke über einem weißen Hemd, dazu dunkle ausgestellte Hosen über glänzend schwarzen Lackschuhen. Auf dem linken Revers war ein Schild, darauf stand Beethoven , doch Rockwell bemerkte es nicht, als er über die Holzpuppe stieg, weswegen er hinterher immer noch nicht wusste, welcher berühmte Komponist nun der Besitzer besagten Flügels gewesen war.
    Jedenfalls war es nicht die Puppe, die am Flügel saß und spielte. Es war jemand anders. Er machte ein paar vorsichtige Schritte in Richtung des Instruments, um einen besseren Blick auf den Musiker werfen zu können, der so unbeschreiblich schlecht spielte. Als er nah genug war, sah er eine Gestalt auf dem kleinen Hocker vor dem Flügel sitzen und mit mehr Verve als Geschick in die elfenbeinernen Tasten hämmern. Der Anblick der Gestalt jagte Rockwell einen eisigen Schauer über den Rücken.
    Die Gestalt trug ein langes, tief dunkelrotes Gewand mit einer Kapuze. Und weil sie die Kapuze über den Kopf gezogen hatte, sah sie aus wie ein Boxer auf dem Weg in den Ring. Sie schwankte leidenschaftlich nach rechts und links und bewegte den Kopf wie Stevie Wonder, während sie ihre furchtbar schräge Melodie spielte. Von Rockwells Kollegen Buckley war keine Spur zu sehen, auch wenn – ziemlich beunruhigend – eine Spur aus fetten Blutspritzern zu der vermummten Gestalt am Flügel führte.
    Indem er in sicherem Abstand blieb, rief Rockwell die Gestalt an, in der Hoffnung, einen Blick auf das Gesicht des mysteriösen Pianisten unter der Kapuze werfen zu können. Falls ihm nicht gefiel, was er sah, hatte er zumindest zwanzig Meter Vorsprung, falls er schleunigst die Flucht ergreifen musste.
    »Hey, Sie!«, rief er. »Wir haben geschlossen! Sie dürfen da nicht spielen. Sie dürfen überhaupt nicht mehr hier sein. Zeit zu gehen, Kumpel.«
    Die Gestalt unterbrach ihr Spielen, und ihre knochigen Finger zitterten nahezu unmerklich über den glänzenden schwarzen und weißen Tasten. Dann sprach sie.
    »Du summst die Melodie, und ich nehme sie auf.« Es war eine rostig klingende Stimme, die unter der roten Kapuze hervordrang. Ein schallendes Lachen folgte, und die Hände fielen herab, als die Gestalt ihre Melodie fortsetzte.
    »Was? Wie? Hey, wo ist Carterton?«, rief Rockwell und trat einen Schritt näher. Die Hand, die den Gummiknüppel gepackt hielt, schwitzte reichlich.
    Wieder hörte die Gestalt auf zu spielen, und diesmal drehte sie den Kopf und sah Rockwell direkt an. Da Rockwell nicht gerade forsch auf sie zuging, war es für ihn überhaupt kein Problem, wie angewurzelt stehen zu bleiben, gefolgt von einem verlegenen Moment, in dem er ernsthaft überlegte, ob er sich in die Hose pinkeln sollte oder nicht.
    Die Gestalt unter der Kapuze besaß nur ein halbes Gesicht. Im Schatten des Stoffs erblickte der zu Tode erschrockene Nachtwächter etwas, das größtenteils aussah wie ein vergilbter Schädel. Faulende Überreste von Fleisch hingen an den Wangen, am Unterkiefer und an der Stirn, und er bemerkte auch ein einzelnes, ziemlich merkwürdig aussehendes grünes Auge, doch die andere Augenhöhle war leer, und das Gesicht hatte weder Lippen noch eine Nase. Voll Abscheu sah Rockwell zur Seite, nur um zu bemerken, dass die knochigen Finger, die in die Tasten des Flügels gegriffen hatten, genau das waren: Knochenfinger. Finger ohne jedes Fleisch und ohne Haut. Herr im Himmel!
    Bevor Rockwell Zeit fand, sich abzuwenden und wegzurennen, erhob sich die verhüllte Gestalt von ihrem Hocker. Sie war gut über eins achtzig groß und schien die weitläufige Galerie zu dominieren. Sie streckte die Knochenfinger in Rockwells Richtung aus.
    Und dann tat sie etwas Merkwürdiges.
    Sie fuhr mit einer Hand durch die Luft, als würde sie die unsichtbaren Schnüre einer Marionette ziehen, während sie Rockwell unablässig mit ihrem ausdruckslosen Gesicht anzugrinsen schien.
    Für Joel Rockwell sahen die Knochenhände aus, als würden sie in allernächster Zukunft hinter ihm her sein, obwohl er sicher zwanzig Meter entfernt war. Noch als er sich umwandte in der Absicht, so schnell aus der Galerie zu verschwinden, als wäre der
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