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Das Buch meiner Leben

Das Buch meiner Leben

Titel: Das Buch meiner Leben
Autoren: Alexander Heamon
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ich damals nicht planen.) Welche Informationen Ella über Isabels Krankheit beiläufig aufgeschnappt haben mochte, sie verarbeitete sie mit Hilfe ihres imaginären Bruders. Und da sie ihre Schwester ganz offenkundig vermisste, war Mingus auch ein Tröster. Sie wollte, dass wir als Familie zusammen waren, und vermutlich deswegen hatte Mingus eines Tages selbst Eltern und zog mit ihnen in ein Haus in der Nähe, um tags darauf wieder da zu sein. Ella externalisierte ihre komplizierten Gefühle, indem sie sie auf Mingus übertrug, der dementsprechend agierte.
    Eines Tages, beim Frühstück, während Ella ihre Haferflocken aß und von ihrem Bruder erzählte, wurde mir schlagartig klar, dass sie genau das machte, was ich in all den Jahren als Schriftsteller getan hatte: Mit Hilfe meiner Romanfiguren konnte ich verstehen, was für mich schwer zu verstehen gewesen war (und das ist bislang fast alles). So wie Ella hatte ich über einen Reichtum an Wörtern verfügt, dessen Fülle die armseligen Beschränkungen meiner Biographie weit überstieg. Also musste ich mich in einen imaginierten Raum hineinentwickeln, ich benötigte mehrere Leben. Auch ich hatte andere Eltern gebraucht und einen anderen als mich, der meine metaphysischen Wutanfälle bekam. All diese Avatare hatte ich mir in der Brühe meines ständig sich wandelnden Ichs ausgedacht, aber sie waren nicht ich – sie taten, was ich nicht tun wollte oder konnte. Wenn ich Ella leidenschaftlich ihre endlosen Mingus-Geschichten fortspinnen hörte, begriff ich, dass die Notwendigkeit des Erzählens tief in uns ist und untrennbar verknüpft mit den Mechanismen, die Wörter produzieren und absorbieren. Fantasievolles Erzählen – also auch die Romanliteratur – ist ein evolutionäres Grundwerkzeug zum Überleben. Wir verarbeiten die Welt, indem wir Geschichten erzählen, wir eignen uns Wissen an, indem wir uns in imaginäre Personen versetzen.
    Das Wissen, das ich im Laufe meines schriftstellerischen Lebens erworben hatte, war in unserem ATRT -Aquarium jedoch wertlos. Anders als Ella konnte ich keine Geschichte konstruieren, mit deren Hilfe ich all das Geschehene verstehen würde. Isabels Krankheit war stärker als meine Fantasie. Für mich zählte allein die Realität ihres Atems an meiner Brust, ihr Einschlummern, wenn ich ihr meine drei Schlaflieder vorsang. Ich wagte nicht, über ihr freundliches Lächeln, über ihr gepeinigtes, aber noch immer schönes Leben hinauszudenken.
    An einem Sonntagnachmittag im Oktober bekam Isabel das letzte Medikament in ihrem dritten Chemozyklus. Wir hofften, sie würde am Montag nach Hause kommen können, wenigstens für ein paar Tage. Ella besuchte sie am Nachmittag und brachte sie wie immer zum Lachen, indem sie tat, als würde sie Stückchen aus ihrer Wange nehmen und essen. Nachdem Ella gegangen war, fiel mir auf, dass Isabel in meinen Armen ganz erregt war. Ich bemerkte ein Muster in ihrer Unruhe. Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass sie etwa alle dreißig Sekunden zuckte und wimmerte. Teri rief die Krankenschwester, die mit dem diensthabenden Onkologen sprach, der mit dem Neurologen sprach, der mit jemand anderem sprach. Es waren offenbar kleine Anfälle, aber es war nicht klar, warum sie auftraten. Dann hatte sie einen ausgewachsenen epileptischen Anfall: Sie verkrampfte sich, verdrehte die Augäpfel, Schaum trat aus dem Mund, sie zuckte. Teri und ich hielten ihre Hände und sprachen mit ihr, aber sie nahm uns nicht wahr. Sie wurde sofort auf die Intensivstation verlegt.
    Die Namen all der Medikamente, die man ihr gab, und all der Dinge, die man dort unternahm, sind mir ebenso wenig in Erinnerung wie die ganze Nacht – Unvorstellbares merkt man sich nicht. Ein plötzlicher Abfall des Natriumspiegels hatte die Anfälle ausgelöst. Die Ärzte, was immer sie taten, stellten es ab. Schließlich wurde ein Atemschlauch gelegt, und wieder wurde sie mit Rocuronium ruhiggestellt. Isabel würde auf der Intensivstation bleiben müssen, bis der Natriumwert sich stabilisiert hatte.
    Doch dazu kam es nicht. Zwar wurde das Rocuronium abgesetzt und ein paar Tage später der Atemschlauch wieder entfernt, aber sie musste ständig mit Natrium versorgt werden, auf Kosten ihrer parenteralen Ernährung, und die Werte normalisierten sich trotzdem nicht. An Halloween – während Teri wie versprochen mit Ella durch unsere Nachbarschaft zog – lag Isabel wieder ruhig in meinen Armen. In der Nacht zuvor, die ich zu Hause bei Ella verbracht hatte, hatte
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