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Das Buch meiner Leben

Das Buch meiner Leben

Titel: Das Buch meiner Leben
Autoren: Alexander Heamon
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machen. Irgendwann, hieß es, könne sie das Entwicklungsstadium eines Kindes in ihrem Alter erreichen.
    Als ihre erste Chemotherapie begann, war sie zehn Monate alt und wog nur etwas über sieben Kilo. An guten Tagen lächelte sie heroisch, mehr als jedes andere Kind, das ich kenne. Diese Tage, so selten sie waren, ermöglichten es, uns eine Art Zukunft für Isabel und unsere Familie vorzustellen. Wir setzten die Chemotermine fest, sagten unseren Freunden und Verwandten, welche Tage für Besuche geeignet wären, wir notierten irgendwelche Dinge im Kalender für die nächsten Wochen im Voraus. Aber die Zukunft war so prekär wie Isabels Gesundheit – sie reichte immer nur bis zum nächsten Schritt, mit dem vernünftigerweise zu rechnen war: das Ende des Chemozyklus, die Verbesserung ihrer weißen Blutkörperchen. Ich wehrte mich, weiter vorauszuschauen. Wenn ich merkte, dass ich mir vorstellte, wie ich ihr Händchen hielt, während sie im Sterben lag, verscheuchte ich das Bild aus meiner Fantasie und erschreckte Teri jedes Mal, indem ich laut sagte: » Nein! Nein! Nein! Nein! « Ich verbot mir auch jeden Gedanken an das andere Ergebnis (erfolgreiche Genesung), weil ich inzwischen überzeugt war, dass alles, was ich mir wünschte, nicht eintrat. Ich entwickelte daher eine mentale Strategie, mir nichts Gutes mehr zu wünschen, als würden allein durch den Akt des Wünschens die gnadenlosen Kräfte heraufbeschworen, die dieses Universum bewegen und in ihrer Boshaftigkeit das Gegenteil all dessen bewirken, was ich erhofft hatte. Ich wagte es nicht, an Isabels Überleben zu denken, um es nicht zu gefährden.
    Kurz nach Isabels erstem Chemozyklus rief eine wohlmeinende Freundin von mir an und fragte als Erstes: » Na, habt ihr irgendwie eine Struktur für die neue Situation gefunden? « Isabels Chemotherapie sorgte in der Tat für eine Art Struktur, für eine gewisse Routine. Die immer gleichen Medikamente wurden in gleichbleibender Abfolge verabreicht, und es kam zu den immer gleichen Reaktionen – Erbrechen, Appetitlosigkeit, Zusammenbruch des Immunsystems, im Anschluss intravenöse parenterale Ernährung (wie sie Patienten bekommen, die nicht essen können), und regelmäßig wurden Medikamente gegen Übelkeit und Pilzbefall sowie Antibiotika verabreicht. Dann die Transfusionen, die Verlegung in die Akutstation wegen Fieber, die allmähliche Besserung (gemessen an der Zahl der Blutkörperchen) und ein paar gute Tage zu Hause, bis der nächste Zyklus begann.
    Wenn Isabel und Teri, die kaum von ihrer Seite wich, zur Chemo im Krankenhaus waren, blieb ich über Nacht bei Ella, brachte sie am nächsten Morgen in die Vorschule, fuhr dann mit Kaffee und Frühstück zu Teri in die Klinik, und während sie duschte, sang ich Isabel etwas vor oder spielte mit ihr. Ich wechselte Windeln oder machte sauber, wenn sie sich übergeben hatte. In Pseudofachjargon sprachen Teri und ich über die vergangene Nacht und den bevorstehenden Tag und warteten auf das Erscheinen der Ärzte, um unsere schwierigen Fragen zu stellen.
    Das Wohlbefinden des Menschen beruht auf einer gewissen Regelmäßigkeit im Alltäglichen, Seele und Körper brauchen eine vertraute, planbare Umgebung. Aber für Isabel konnte es keine vertraute, gleichbleibende Routine geben. Ein ATRT führt zum Zusammenbruch jeder biologischen, emotionalen und familiären Ordnung. Nichts läuft so, wie man es erwartet, geschweige denn wie man es sich wünscht. Neben den unerwarteten Katastrophen und Akutmaßnahmen gab es ja noch die alltägliche Hölle: Isabels Husten hörte eigentlich nie auf und führte zu Erbrechen, sie hatte Ausschlag und Verstopfung, sie war unruhig und schwach, nie konnten wir ihr sagen, dass es aufwärts mit ihr ginge. An solche Dinge kann man sich nicht gewöhnen. Der Trost der Normalität war Teil einer anderen Welt.
    Als ich eines Morgens zum Krankenhaus fuhr, sah ich mehrere Jogger die Fullerton Avenue in Richtung See entlanglaufen. Ich hatte das starke körperliche Gefühl, in einem Aquarium zu sein. Ich konnte nach draußen sehen, die Leute draußen konnten mich sehen (sofern sie überhaupt Notiz von mir nahmen), aber wir lebten und atmeten in zwei völlig separaten Welten. Isabels Krankheit und unsere Erfahrungen hatten nichts mit den anderen Leuten zu tun, betrafen sie nicht. Teri und ich erwarben herzzerreißende Kenntnisse, die in der äußeren Welt keinerlei Gebrauchswert hatten und, bis auf uns, niemanden interessierten. Die Jogger liefen
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