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Das Buch meiner Leben

Das Buch meiner Leben

Titel: Das Buch meiner Leben
Autoren: Alexander Heamon
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– in diesem Fall die Ommaya.
    Isabel bekam Antibiotika, ein, zwei Scans wurden gemacht und die Ommaya entfernt. Am Mittwochnachmittag verließ ich das Krankenhaus und fuhr nach Hause, um bei Ella zu sein, da wir ihr versprochen hatten, mit ihr einen Bauernmarkt in unserem Viertel zu besuchen. Inmitten der ganzen Katastrophe war es wichtig, dass wir unsere Versprechen hielten. Wir kauften Blaubeeren und Pfirsiche und auf dem Nachhauseweg in unserer Lieblingsbäckerei supergute Cannoli. Ich sprach mit Ella über Isabels Krankheit, über ihren Tumor, und erklärte ihr, dass sie bei den Großeltern übernachten müsse. Sie klagte nicht und weinte nicht. Sie verstand, so gut eine Dreijährige verstehen konnte, in welch schwieriger Lage wir waren.
    Ich war auf dem Weg zum Auto, um mit den Cannoli ins Krankenhaus zu fahren, als Teri anrief. Isabels Tumor blute, sie müsse schnellstens operiert werden. Dr. Tomita wolle mit mir sprechen, bevor er in den OP gehe. Ich brauchte fünfzehn Minuten bis zum Krankenhaus, raste durch den Verkehr wie durch eine andere Welt, eine andere Raum-Zeit, wo niemand über die Straße rannte und kein Kinderleben in Gefahr war, keine Katastrophe drohte.
    Im Krankenzimmer, noch immer die Packung Cannoli in der Hand, fand ich Teri weinend bei der bleichen Isabel sitzen. Dr. Tomita war da, die Aufnahmen von der Blutung hingen am Schirm. Offenbar hatte sich der Tumor, nachdem die Hirnflüssigkeit abgezogen war, in den frei gewordenen Raum ausgebreitet, und dabei waren die Blutgefäße geplatzt. Die einzige Hoffnung war, den Tumor umgehend zu entfernen, doch es bestand das Risiko, dass Isabel zu Tode bluten würde. Dr. Tomita wies darauf hin, dass ein Kind in ihrem Alter nur rund einen halben Liter Blut im Körper habe und eine permanente Transfusion vielleicht nicht reichen würde.
    Bevor wir Isabel in den OP -Bereich folgten, legte ich die Cannoli in den Kühlschrank in ihrem Zimmer. Der Egoismus dieser vorausschauenden Handlung löste sofort ein schlechtes Gewissen bei mir aus. Erst später wurde mir bewusst, dass dieser absurde Akt mit einer verzweifelten Hoffnung zu tun hatte: Die Cannoli konnten für unser Überleben notwendig sein.
    Die Operation sollte vier bis sechs Stunden dauern. Dr. Tomitas Assistent wollte uns auf dem Laufenden halten. Wir küssten Isabels pergamentbleiche Stirn und sahen zu, wie sie von einer Bande maskierter Fremder in das Unbekannte geschoben wurde. Stumm saßen wir da und weinten immer wieder. Wir aßen von den Cannoli, um etwas im Magen zu haben – seit Tagen hatten wir kaum geschlafen und wenig gegessen. Das Licht im Zimmer wurde heruntergedimmt. Wir saßen auf einem Bett hinter einem Vorhang, ungestört, weit entfernt von der Welt von Bauernmärkten und Blaubeeren, in der Kinder geboren wurden und lebten und wo Großmütter ihre Enkelinnen ins Bett brachten. Noch nie hatte ich mich einem Menschen so nahe gefühlt wie an diesem Abend meiner Frau.
    Irgendwann nach Mitternacht kam Dr. Tomitas Assistent und berichtete, dass die Operation gut verlaufen sei. Wir trafen Dr. Tomita vor dem Wartezimmer, in dem andere Eltern auf unbequemen Sofas schliefen, von anderen Albträumen geplagt. Er glaubte, den Tumor weitgehend entfernt zu haben. Isabel gehe es gut, sie werde bald auf die Intensivstation verlegt, wo wir sie besuchen könnten. Dieser Moment ist mir als ein relativ glücklicher in Erinnerung – Isabel lebte. Nur das zählte. Wir konnten nur hoffen, den nächsten Schritt zu erreichen, was immer das sein würde.
    In der Intensivstation fanden wir Isabel inmitten eines Gewirrs von Schläuchen und Kabeln, ruhiggestellt durch Rocuronium, damit sie sich nicht die Atemschläuche wegriss. Wir verbrachten die Nacht an ihrem Bett, küssten die Finger ihrer schlaffen Hand, lasen oder sangen ihr etwas vor. Am nächsten Tag schloss ich ein iPod an, nicht nur in der hartnäckigen Hoffnung, Musik sei gut für das schmerzende, genesende Köpfchen, sondern auch, um die enervierenden Krankenhausgeräusche zu überdecken, das Piepen der Monitore, das Rasseln der Atemgeräte, das Geplapper der Krankenschwestern auf dem Korridor, den Alarm, der jedes Mal ertönte, wenn sich der Zustand eines Patienten plötzlich verschlechterte. Neben den Bach’schen Cellosuiten oder Charles Mingus’ Pianostücken registrierte ich jeden von Isabels Herzschlägen, jede Blutdruckschwankung. Wie gebannt starrte ich auf die immer neuen Zahlen auf dem Monitor, als könne allein das Hinsehen etwas Gutes
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