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Das Buch meiner Leben

Das Buch meiner Leben

Titel: Das Buch meiner Leben
Autoren: Alexander Heamon
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bewirken. Wir konnten nur warten.
    Es gibt, wie ich inzwischen glaube, einen psychischen Mechanismus, der die meisten Menschen davon abhält, sich den Moment des eigenen Todes vorzustellen. Könnte man sich nämlich diesen Übergang vom Bewusstsein in das Nichts in aller Deutlichkeit ausmalen, mitsamt der dazugehörigen Angst und demütigenden Hilflosigkeit, könnte man kaum leben. Dass allem Lebendigen der Tod eingeschrieben ist, jeder Moment des Daseins vielleicht nur einen Atemzug vom Ende entfernt ist, wäre kaum zu ertragen. Die Ungeheuerlichkeit dieser unabwendbaren Tatsache hätte etwas Niederschmetterndes. Und doch, indem wir in unsere Sterblichkeit hineinwachsen, beginnen wir, die ängstlichen Zehen vorsichtig in das Nichts zu tauchen und zu hoffen, dass wir uns irgendwie mit unserer Sterblichkeit anfreunden, dass Gott oder irgendein anderes tröstendes Opiat zur Verfügung stehen wird, wenn wir uns in das Dunkel des Nichts vorwagen.
    Aber wie kann man sich mit dem Tod des eigenen Kindes anfreunden? Der soll schließlich erst eintreten, wenn man selbst schon längst im Nichts verschwunden ist. Die Kinder sollen einen um Jahrzehnte überdauern, in denen sie ihr eigenes Leben führen, unbelastet von der Anwesenheit der Eltern, um irgendwann den gleichen Weg zu gehen wie sie – Ignorieren, Leugnen, Angst, das Ende. Sie müssen selbst mit ihrer Endlichkeit fertigwerden und können von den Eltern diesbezüglich keine Hilfe erwarten (außer, man konfrontiert die Kinder durch den eigenen Tod mit dem Sterben) – der Tod ist kein Forschungsgegenstand. Und selbst wenn man sich den Tod des eigenen Kindes vorstellen könnte – warum würde man das tun?
    Doch ich bin mit einer blühenden Fantasie geschlagen und habe mir schon oft das Schlimmste vorgestellt. Ich stellte mir vor, wie ich beim Überqueren der Straße von einem Auto überfahren werde. Sogar die Dreckschicht auf der Achse konnte ich sehen, während das Rad meinen Kopf zerquetschte. Wenn die U-Bahn stehenblieb und die Lichter ausgingen, stellte ich mir eine Feuerwand vor, die uns durch den Tunnel entgegenkam. Erst nachdem ich Teri kennengelernt hatte, bekam ich meine quälende Fantasie ein wenig in den Griff. Und nach der Geburt unserer Kinder lernte ich, jede Vorstellung von etwas Schrecklichem, das ihnen zustoßen könnte, rasch aus meinen Gedanken zu verbannen. Einige Wochen, bevor Isabels Tumor diagnostiziert wurde, war mir ihr Kopf ein bisschen groß und nicht ganz symmetrisch erschienen, und sofort fragte ich mich: Was, wenn sie einen Hirntumor hat? Aber ich schob den Gedanken sofort beiseite. Selbst wenn man sich eine schwere Krankheit bei seinem Kind vorstellen könnte – warum würde man das tun?
    Einige Tage nach Isabels Tumoroperation zeigte sich bei einer MRT , dass in ihrem Hirn noch ein kleines Stückchen übrig war. Je vollständiger der Tumor entfernt wurde, desto günstiger war die Prognose. Also musste Isabel ein zweites Mal operiert werden. Danach kam sie wieder auf die Intensivstation. Nachdem sie wieder auf die Neurochirurgie verlegt worden war, stellte sich heraus, dass die Gehirn-Rückenmark-Flüssigkeit noch immer nicht abfloss. Daraufhin wurde eine externe Dränage gelegt. Sie hatte wieder Fieber. Die externe Dränage wurde wieder entfernt. Die Hirnkammern waren lebensbedrohlich vergrößert, voller Flüssigkeit, der Blutdruck sank. Bei einem neuerlichen Akutscan, bei dem sie mit dem Gesicht nach oben im Kernspintomographen lag, erbrach sie und wäre fast erstickt. Schließlich wurde ein Shunt gelegt, um die Hirnflüssigkeit direkt in den Magen abzuleiten. In weniger als drei Wochen hatte Isabel zwei Hirnresektionen überstehen müssen – dabei wurden die beiden Gehirnhälften auseinandergeklappt, damit Dr. Tomita in die Region zwischen Stammhirn, Zirbeldrüse und Kleinhirn kam und den Tumor entfernen konnte – sowie sechs zusätzliche Operationen, um das Problem der nicht abfließenden Hirnflüssigkeit in den Griff zu bekommen. Man hatte Isabel einen Schlauch in die Brust eingesetzt, damit die chemotherapeutischen Medikamente direkt in den Blutkreislauf gelangen konnten. Und zu allem Überfluss wurde im Stirnlappen ein inoperabler erdnussgroßer Tumor entdeckt, und der pathologische Bericht bestätigte, dass es sich tatsächlich um einen ATRT handelte. Am 17. August sollte die Chemo beginnen, einen Monat nach der Diagnose. Isabels Onkologen, Dr. Jason Fangusaro und Dr. Rishi Lulla, wollten keine Prognose abgeben. Und wir trauten
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