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Das Boese in uns

Das Boese in uns

Titel: Das Boese in uns
Autoren: Cody Mcfadyen
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Anblick.
    Der Wagen hält, die hintere Tür öffnet sich, und ich steige ein. Es wird Zeit, dass ich mich auf den Grund meines Hierseins konzentriere.
    Director Rathbun hat mir kurz und knapp das Wichtigste über Rosario Reid erzählt: »Sie ist achtundvierzig Jahre alt. Mit sechsundzwanzig bekam sie Dexter, ein Jahr, nachdem sie den Kongressabgeordneten geheiratet hatte. Die beiden kennen sich seit der Highschool, doch sie haben nach dem Collegeabschluss noch ein paar Jahre gewartet, bevor sie in den Stand der Ehe getreten sind.
    Rosarios Urgroßvater kam aus Mexiko in die Vereinigten Staaten und errichtete ein kleines Rinder-Imperium in einer Zeit, als das für Mexikaner in Texas gar nicht einfach war. Der Mann scheint seinen Schneid vererbt zu haben: Mrs. Reid ist knallhart. Sie hat in Harvard Jura studiert und ist Anwältin, und sie geht ihren Gegnern gerne an die Kehle. Während Mr. Reid damit beschäftigt war, eine politische Karriere einzuschlagen, hat Mrs. Reid den Unterprivilegierten zu ihrem Recht verholfen. Sie hat eine ganze Reihe von aufsehenerregenden Fällen gewonnen, über die ich keine Einzelheiten weiß, außer dass mächtige Firmen regelmäßig den Kürzeren gezogen haben. Als Mr. Reid beschloss, für den Kongress zu kandidieren, brach seine Frau ihre Zelte als Anwältin ab und organisierte seinen Wahlkampf.« Rathbun schüttelte bewundernd den Kopf. »Wer sie in Washington kennt, hütet sich davor, sie wütend zu machen, Agentin Barrett. Sie ist eine der nettesten Frauen, die ich kenne, aber sie kann skrupellos zuschlagen, wenn man ihrem Mann in die Quere kommt.«
    Ich finde das alles faszinierend, sogar bewundernswert. Doch Menschen, die im Licht der Öffentlichkeit stehen, neigen schnell dazu, sich mit einer Aura des Geheimnisvollen zu umgeben, wenn man sie lässt. Ich möchte selbst ein Gespür für Rosario Reid bekommen. Die Mutter zu verstehen wird mir helfen, das Kind zu verstehen. Ich muss herausfinden, ob und wie viel sie mir gegenüber lügt - und falls sie lügt, aus welchen Gründen. Aus Liebe zu ihrem Kind? Aus politischer Zweckdienlichkeit? Oder einfach so?
    Mrs. Reid nickt mir zu, als ich die Wagentür von innen zuziehe. Sie klopft an die Trennscheibe und signalisiert dem Fahrer loszufahren; dann drückt sie auf einen Knopf, von dem ich annehme, dass er die Gegensprechanlage abschaltet. Der Wagen setzt sich in Bewegung, und wir nehmen uns einen Moment Zeit, um einander zu beschnuppern.
    Rosario Reid ist unbestreitbar eine attraktive Frau. Sie besitzt die klassischen Züge einer Latino-Schönheit; sie wirkt sinnlich und kultiviert zugleich. Als Frau erkenne ich, dass sie Maßnahmen ergriffen hat, um diese Schönheit in Schranken zu halten. Ihre Haare sind kurz und streng geschnitten, und sie hat graue Strähnen, die nicht nachgetönt wurden. Kein Maskara hebt ihre Wimpern hervor. Ihr Sohn hat die vollen Lippen von ihr geerbt, doch sie hat Liner benutzt, um den Amorbogen ein wenig zu begradigen. Sie trägt eine schlichte weiße Bluse, eine marineblaue Jacke und dazu passende Hosen, alles perfekt maßgeschneidert und dazu angetan, ihre sinnliche Ausstrahlung zu dämpfen.
    Diese oberflächlichen Attribute verraten mir eine Menge über ihre Loyalität gegenüber ihrem Ehemann. Rosario tut das Gegenteil von dem, was die meisten Frauen in ihrer Situation tun würden: Sie maskiert ihre angeborene Sinnlichkeit, und sie dämpft ihre Schönheit mit zurückhaltendem Professionalismus. Tweed anstatt Seide.
    Warum? Damit sie für die weibliche Wählerschaft des Kongressabgeordneten akzeptabel ist. Mächtige Frauen dürfen attraktiv sein, doch niemals sinnlich oder gar sexy. Ich weiß nicht, warum das so ist, aber es ist so. Selbst für mich. Ich vertraue einer Frau wie Rosario Reid in einer Machtposition mehr, als ich einer Frau vertrauen würde, die aussieht wie ein Model von Victorias Secret.
    Überlegen Sie selbst.
    Außerdem ist sie stark. Sie gibt sich äußerlich gefasst, doch die Intensität ihrer Trauer ist offensichtlich, als ich ihr in die Augen schaue. Sie weint nicht in der Öffentlichkeit. Trauer ist für diese Frau Privatsache - noch etwas, das wir neben unseren toten Kindern gemeinsam haben.
    Sie bricht das Schweigen als Erste. »Danke, dass Sie gekommen sind, Agentin Barrett.« Ihre Stimme klingt gemessen und leise, weder zu hoch noch zu tief. »Ich weiß, dass dies eine ungewöhnliche Situation ist. Ich habe immer darauf geachtet, die politische Macht meiner Familie nicht für
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