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Das Blut der Lilie

Titel: Das Blut der Lilie
Autoren: Jennifer Donnelly
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Schulschwänzen, die schlechten Noten, und jetzt hast
du auch noch eine Möglichkeit gefunden, deine wundervolle Musik zu benutzen, um
dir selbst Schmerz zuzufügen. Es ist, als wolltest du ewig Buße tun. Du musst
damit aufhören, Andi. Du musst Vergebung finden für das, was passiert ist.
Vergebung für dich selbst.«
    Erneut steigt Wut in mir auf, eine rasende und mörderische
Wut. Genau wie in dem Moment, als der Typ aus der Slater-Schule den Schlüssel
berührt hatte. Ich wende den Blick ab, versuche, diese Wut niederzukämpfen,
wünschte, Beezie würde einfach mitsamt ihren grässlichen Töpfen aus dem Fenster
springen und ich könnte Noten und Akkorde hören statt ihre Stimme. Bachs Suite
Nr. 1, für Cello komponiert und für Gitarre transskribiert. Die sollte ich
eigentlich mit Nathan spielen. Genau jetzt.
    Â»Wie geht’s meinem Crazy Diamond?«, fragt er immer, wenn ich
ins Klassenzimmer komme. Seine Lieblingsmusiker sind Bach, Mozart und die Jungs
von Pink Floyd.
    Nathan ist alt. Er ist fünfundsiebzig. Als Kind hat er seine
Familie in Auschwitz verloren. Seine Mutter und Schwester wurden gleich nach
ihrer Ankunft vergast, weil sie nicht stark genug zum Arbeiten waren. Nathan
überlebte, weil er ein Wunderkind war, ein Achtjähriger, der wie ein Engel
geigen konnte. Die Offiziere mochten seine Musik, also durfte er essen, was an
ihrem Tisch übrig blieb. Spät in der Nacht ging er in seine Baracke zurück und
erbrach sein Essen, damit sein Vater auch etwas hatte. Das versuchte er leise
zu tun, aber eines Nachts erwischten ihn die Wachen. Sie schlugen ihn blutig
und nahmen seinen Vater mit.
    Ich wusste, was Nathan zu meiner Hand sagen würde. Er würde
sagen, dass Bluten für Bach keine große Sache sei. Er würde sagen, dass Leute
wie Beethoven, Billie Holiday und Syd Barrett alles für ihre Musik gegeben
hätten, also was sei da schon ein Fingernagel? Er würde keine Tragödie daraus
machen. Er wusste es besser. Er wusste, was eine Tragödie ist. Er kannte sich
aus mit Verlusten. Und er wusste, dass es so etwas wie Vergebung nicht gibt.
    Â»Andi? Andi, hören Sie mir überhaupt zu?«
    Beezie ist immer noch beim selben Thema.
    Â»Ja, Miss Beezemeyer«, antworte ich ernst und hoffe, genügend
zerknirscht auszusehen, um noch vor Mitternacht hier rauszukommen.
    Â»Ich habe Briefe zu Ihnen nach Hause geschickt. Weil sie noch
keinen Entwurf für Ihre Abschlussarbeit eingereicht haben. Vermutlich wissen
Sie davon. Einen habe ich an Ihre Mutter und einen an Ihren Vater geschickt.«
    Von dem an meine Mutter wusste ich. Der Postbote hatte ihn
durch den Briefkastenschlitz geworfen. Eine Woche lag er auf dem Dielenboden,
bis ich ihn beiseite kickte. Dass Beezie auch an meinen Vater geschrieben
hatte, wusste ich nicht, aber das macht nichts. Er öffnet seine Post sowieso
nicht. Post ist etwas für Normalsterbliche.
    Â»Haben Sie etwas dazu zu sagen, Andi? Irgendetwas?«
    Â»Nun, ich glaube … ich meine, ich sehe nicht, wie ich das
schaffen soll, Miss Beezemeyer. Die Abschlussarbeit. Nicht wirklich. Kann ich
im Juni nicht einfach mein Diplom kriegen und gehen?«
    Â»Die Abgabe der Abschlussarbeit in zumindest zufriedenstellender
Form ist die Voraussetzung für den Erhalt des Diploms. Das wissen Sie. Ohne die
kann ich Sie nicht erfolgreich entlassen. Das wäre unfair gegenüber ihren
Klassenkameraden.«
    Ich nicke. Es interessiert mich nicht. Nicht im Geringsten.
Ich will bloß unbedingt zu meinem Unterricht.
    Â»Und wie sieht es mit Ihren Collegebewerbungen aus? Für
Juilliard? Crane? Die Eastman School?«, fragt Beezie. »Haben Sie die
notwendigen Aufsätze schon geschrieben? Irgendwelche Vorstellungstermine vereinbart?«
    Ich schüttle den Kopf und schneide ihr so das Wort ab.
Inzwischen zittern meine beiden Beine. Ich schwitze. Bibbere. Ich brauche mein
Klassenzimmer. Meinen Lehrer. Ich brauche meine Musik. Dringend. Sehr dringend.
Jetzt.
    Beezie seufzt tief. »Sie brauchen einen Abschluss, Andi«,
sagt sie. »Ich weiß, es ist immer noch schwierig. Ich weiß, wie Sie sich
fühlen. Wegen Truman. Wegen dem, was passiert ist. Aber hier geht es nicht um
Truman. Hier geht es um Sie. Um Ihr bemerkenswertes Talent. Ihre Zukunft.«
    Â»Nein. Nein, das stimmt nicht, Miss Beezemeyer.«
    Ich möchte die Worte zurückhalten, kann es aber nicht. Beezie
meint es gut. Sie ist
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