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Das Blut der Lilie

Titel: Das Blut der Lilie
Autoren: Jennifer Donnelly
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und ich haben stundenlang gespielt. Bevor wir
anfingen, zog er ein Taschentuch heraus und reichte es mir.
    Â»Was ist passiert?«, fragte er.
    Â»Ich bin gefallen.«
    Er sah mich über den Rand seiner Brille hinweg mit seinem
Balsamblick an.
    Â»Miss Beezemeyer hat über Truman geredet. Und dass ich einen
Abschluss machen müsste. Von da an ging alles schief«, erklärte ich.
    Nathan nickte, dann sagte er: »Dieses Wort ›Abschluss‹ … das
ist ein dummes Wort, nicht? Bach hat nicht an Abschlüsse geglaubt. Beethoven
auch nicht. Bloß Amerikaner glauben an Abschlüsse, weil Amerikaner wie kleine
Kinder sind – leicht zu täuschen. Bach glaubte ans Musikmachen, oder nicht?«
    Er sah mich weiterhin an und wartete auf eine Antwort.
    Â»Ja«, sagte ich leise.
    Dann spielten wir. Er zeigte keinerlei Nachsicht wegen meiner
Verletzungen und fluchte wie ein Seeräuber, wenn ich einen Triller verpfuschte oder
eine Passage verholperte. Es war schon acht, als ich ging.
    Die winterlichen Straßen, die ich jetzt hinuntergehe, sind
kalt und dunkel. Um mich herum blinken nur die Lichter für die Feiertagsgötter.
Grün und Rot für den Nikolaus. Blau für Judas Makkabäus. Weiß für Maria Stuart.
Die kalte Luft in meinem Gesicht fühlt sich gut an. Ich bin erschöpft. Ich bin
ruhig. Und ich passe nicht auf.
    Denn plötzlich ist es da, direkt vor mir – das Templeton.
    Das Apartmenthaus, das früher einmal, vor dem Umbau, das alte
Hotel St. Charles war. Es ist acht Stockwerke hoch, zwei Blocks lang und wirft seinen hässlichen
Schatten auf alles, sogar bei Nacht. Die Läden im Erdgeschoss sind immer
beleuchtet, selbst nach Geschäftsschluss. Darin wird Basilikumsorbet und Quittengelee
verkauft und eine Menge anderes Zeug, das keiner will. Die oberen Stockwerke
sind Eigentumswohnungen, die ab einer halben Million Dollar zu haben sind.
    Es ist fast zwei Jahre her, dass ich so nah an das Gebäude
herangekommen bin. Ich bleibe stehen, starre es an, sehe es aber nicht.
Stattdessen sehe ich das St.
Charles . Jimmy Shoes hat mir erzählt, dass es früher einmal
todschick gewesen sei. Damals in den Dreißigern. Er sagte, auf dem Dach hätte
es einen Salzwasserpool und Spotlights gegeben. Die Dodgers hätten hier
gegessen, Gangster seien mit Tänzerinnen am Arm hineingeschlendert und Swing
Bands hätten bis zum Morgengrauen gespielt.
    Vor zwei Jahren war das Gebäude längst nicht mehr so elegant
gewesen. Sondern heruntergekommen und verfallen. Ein Teil davon ausgebrannt. In
dem Teil, der noch übrig war, hausten Sozialfälle und Säufer. Drogendealer
standen am Eingang. Straßendiebe trieben sich in den Gängen herum. Die Türen
standen immer offen wie ein lüsternes Maul, und ich konnte den schlechten Atem
riechen, wenn ich vorbeiging – eine Mischung aus Schimmel, Katzenpisse und
Traurigkeit. Ich konnte sie auch hören. Ich hörte wüste Musik aus Lautsprechern
dröhnen, Mrs. Ortega, die ihre Kinder anschrie, das Yankee-Spiel auf Mrs.
Fleets altem Radio und Max. Ihn höre ich immer noch. Er ist in meinem Kopf, und
ich kriege ihn nicht mehr raus.
    Â»Maximilien R. Peters! Unbestechlich, unausweichlich,
unbezwingbar!«, schrie er immer. »Höchste Zeit für die Revolution, Baby!«
    Ich bleibe wie angewurzelt stehen und starre auf den
Gehsteig. Ich will das zwar nicht, kann aber nicht anders. Es war hier, genau
hier, etwa fünf Meter vor mir, bei dem langen zerklüfteten Riss, wo Max auf der
Straße aufschlug. Mit Truman.
    Schon vor Langem hat Regen das Blut weggewaschen, aber ich
kann es immer noch sehen. Wie es sich unter dem kleinen, zerschmetterten Körper
meines Bruders ausbreitet wie die Blütenblätter einer Rose. Und plötzlich
schwillt der Schmerz, der immer in mir, aber fest verkapselt ist, so stark und
mächtig an, dass ich meine, er wolle mein Herz zersprengen, meinen Schädel spalten,
mich in Stücke reißen.
    Â»Aufhören«, flüstere ich und kneife die Augen zu.
    Als ich sie wieder öffne, sehe ich meinen Bruder. Er ist
nicht tot. Er steht auf der Straße und beobachtet mich. Das kann nicht sein.
Aber es ist so. Mein Gott, es ist so! Ich lasse meine Tasche fallen und laufe
auf die Straße.
    Â»Truman! Es tut mir leid, Tru! Es tut mir leid«, schluchze
ich und greife nach ihm.
    Er soll mir sagen, dass alles in Ordnung ist, dass es nur ein
dummes
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