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Das Blut der Lilie

Titel: Das Blut der Lilie
Autoren: Jennifer Donnelly
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tun und alles werden. Mein Potenzial sei
grenzenlos, ich könnte nach den Sternen greifen. Nathan ist der Einzige, der mich
einen Schwachkopfnennt
und mir aufträgt, die Sarabande in Bachs Lautensuite in e-Moll pro Nacht
fünfhundert Mal zu spielen, wenn das nötig sei, um sie endlich in meinen
Schädel zu kriegen. Und das ist eine solche Erleichterung, dass ich weinen
könnte.
    Oben in meinem Zimmer lasse ich Jeans und Gürtel zu Boden
fallen. Ich schlafe in Unterwäsche. Beim Durchqueren des Raums sehe ich kurz
mein Spiegelbild. Ich bin dürr wie ein Junge, blass, hohläugig, mit strähnigem
braunem Haar, das in kurze Rattenschwänze geflochten ist, und an mir ist so
viel Metall, dass es klappert, wenn ich gehe.
    Arden Tode hat ein Spiel namens Bei der Geburt vertauscht erfunden.
Dabei schickt sie per SMS einen Namen an die ganze
Klasse und behauptet, gerade sei entdeckt worden, dass diese Person adoptiert
worden sei. Dann müssen ihr alle per SMS die Namen
der wirklichen Eltern dieser Person zurückschicken. Sie pickt sich die beiden
besten Namen heraus und veröffentlicht sie dann zusammen mit dem Bild ihres
Opfers auf ihrer Facebook-Seite. Meine Eltern sind Marilyn Manson und Captain
Jack Sparrow. Kein Wunder, dass sie in Biologie durchfallen wird.
    Ich ziehe mein T -Shirt aus, und
der Schlüssel, den ich um den Hals trage, verheddert sich in meinem Haar. Ich
zerre ihn heraus, und er blitzt vor mir auf. Er leuchtet. Selbst im dämmrigen
Licht meines Zimmers leuchtet er. Genau wie Truman früher.
    Ich erinnere mich an den Moment, als er diesen Schlüssel
fand. Am Vorabend – einem Samstagabend – hatten unsere Eltern einen
schrecklichen Streit gehabt. Es wurde geweint und geschrien. Ausgiebig. Ich war
nach oben in mein Zimmer geflüchtet und schaltete den Fernseher ein, um sie zu
übertönen. Truman hatte ich mitgenommen, in der Hoffnung er würde die DVD von Verschollen zwischen fremden Welten mit mir ansehen,
aber das tat er nicht. Er stand an der Tür und lauschte. Es ging wie immer um
dasselbe. Mom war wütend auf Dad, weil er nie zu Hause war. Dad war wütend auf
Mom, weil sie fand, dass er das sollte.
    Â»Glaubst du, das Geld wächst auf den Bäumen?«, schrie er.
»Ich arbeite hart für ein gutes Einkommen. Für dich. Für die Kinder. Um dieses
Haus zu halten. Damit Andi und Truman auf die St. Anselm gehen können …«
    Â»Das ist doch Blödsinn. Wir haben eine Menge Geld. Ich weiß
das, die Bank weiß es, St. Anselm weiß es und du weißt es auch.«
    Â»Hör zu, können wir das bitte lassen? Es ist schon spät. Ich
bin müde. Ich hab den ganzen Tag gearbeitet.«
    Â»Und die ganze Nacht! Das ist das Problem!«
    Â»Verdammt. Marianne, was willst du von mir?«
    Â»Nein, was willst du, Lewis? Ich dachte, es geht um mich. Um
die Kinder. Aber ich hab mich getäuscht. Also sag’s mir. Sag’s. Rück endlich
raus damit. Was willst du?«
    Ich hatte Verschollen
zwischen fremden Welten inzwischen abgehakt. Ich stand auch an
der Tür. Ein paar Sekunden lang war es still, dann hörte ich seine Antwort.
Seine Stimme war ruhig. Er schrie nicht mehr. Das brauchte er nicht.
    Â»Ich möchte den Schlüssel«, sagte er. »Den Schlüssel zum
Universum. Zum Leben. Zu Zeit und Raum, zur Zukunft und zur Vergangenheit. Zu
Liebe und Hass. Zur Wahrheit. Zu Gott. Er ist da. In uns. Im Genom. Die Antwort
auf alle Fragen. Wenn ich ihn nur finde. Das ist es, was ich will«, schloss er
leise. »Ich will den Schlüssel.«
    Danach machten Truman und ich meine Tür zu. Wir sagten kein
Wort zueinander, wir saßen bloß auf meinem Bett und sahen zu, wie Dr. Smith
seinen Velour-Raumanzug anzog. Was konnten wir auch sonst tun? Wie hätten wir
es mit Zeit, Raum und Gott und der Wahrheit aufnehmen können? Mom mit ihren
Bildern von Vogeleiern und Kaffeetassen, und Truman und ich mit unserem dummen,
beschissenen Kinderkram. Es war lachhaft. Mein Vater scherte sich einen Dreck
um die Bands, die ich mochte, genausowenig wie um die Cartoons, die Truman
neuerdings liebte. Wozu auch? Er hatte Besseres zu tun. Ich meine, mit wem
würdest du rumhängen, wenn du die Wahl hättest – mit Johnny Ramone, Magneto
oder Gott?
    Am nächsten Morgen war Mom früh auf. Ich glaube nicht, dass
sie überhaupt geschlafen hatte. Ihre Augen waren rot, und die Küche roch nach
Zigaretten,
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