Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das Blut der Lilie

Titel: Das Blut der Lilie
Autoren: Jennifer Donnelly
Vom Netzwerk:
als Truman und ich zum Frühstück herunterkamen.
    Â»Wollen wir zum Flohmarkt gehen? Habt ihr Lust?«, fragte sie.
    Sie liebt den Brooklyner Flohmarkt. Dort findet sie
Inspiration. In all den traurigen und zerbrochen Dingen. In der ausgefransten
Spitze, den zerkratzten Bildern und dem kaputten Spielzeug. Alles hat eine Vergangenheit,
und sie stellt sich gern vor, wie die wohl gewesen sein mag, um uns dann ihre
Geschichte zu erzählen.
    Wir stiegen in den Wagen und fuhren nach Fort Greene. An
diesem Tag fand sie einen alten, dreibeinigen Pflanzkübel, von dem sie
behauptete, er sei der Nachttopf von Elisabeth Tudor gewesen, eine Lupe, die
Sherlock Holmes in Baskerville Hall benutzt, und einen Silberring mit einem
Drachen, den Mata Hari vor dem Erschießungskommando getragen habe. Ich fand ein
altes Clash- T -Shirt. Und Truman, der jede Kiste
mit altem Trödel durchstöberte, wühlte sich durch verrostete Schlösser,
zerbrochene Füller, Korkenzieher und Flaschenöffner, bis er gefunden hatte,
wonach er suchte – einen Schlüssel, ganz schwarz angelaufen, etwa sechs
Zentimeter lang.
    Ich war dabei, als er ihn fand. Er bekam ihn für einen
Dollar. Die Händlerin sagte, sie habe ihn in der Bowery in einer Abfalltonne
vor einem sehr alten Haus gefunden.
    Â»Das Dach ist eingebrochen«, sagte sie. »Jetzt lässt die
Stadt das ganze Ding abreißen, um Platz für ein Fitnessstudio zu schaffen.
Dieser gottverdammte Bürgermeister. Das Haus wurde 1808 erbaut. Wer braucht
denn überhaupt diese ganzen Fitnessstudios? Es sind doch sowieso alle fett wie
Schweine.«
    Â»Haben wir Silberpolitur?«, fragte Truman, als wir zu unserem
Wagen zurückgingen.
    Â»Unter der Spüle«, antwortete Mom. »Schau, Tru, auf dem
Schlüssel ist eine Fleur-de-Lys, eine Lilienblüte. Das Zeichen der Königswürde.
Ich wette, er gehörte Ludwig XI V .«
    Sie begann uns eine Geschichte über den Schlüssel zu
erzählen, aber Truman unterbrach sie. »Das ist kein Spielzeug, Mom. Der ist
echt«, sagte er. Als wir zu Hause waren, polierte er ihn, bis er glänzte.
    Â»Er ist wunderschön«, sagte Mom, als er blinkte. »Schau, da
oben ist ein ›L‹ eingraviert. Ich hatte also recht! Das steht für Ludwig,
glaubst du nicht?«
    Truman antwortete nicht. Er steckte ihn in seine Tasche, und
wir bekamen den Schlüssel erst zwei Tage später wieder zu Gesicht. Es war
Dienstagabend. Wir saßen im Wohnzimmer, Truman und ich machten Hausaufgaben,
Mom malte. Plötzlich hörten wir die Haustür aufgehen. Es war Dad. Wir blickten
auf und sahen einander erstaunt an.
    Er kam mit einem Blumenstrauß herein. Er wirkte unbeholfen.
Als wäre er ein Müllersohn, der um die Prinzessin werben wollte und erwartete,
mit Hohn und Spott aus dem Palast gejagt zu werden. Aber die Prinzessin lachte
ihn nicht aus. Sie lächelte und ging in die Küche, um eine Vase zu holen.
Während sie fort war, warf Dad einen Blick auf Trumans Bruchrechnungen und
meine Algorithmen. Um etwas zu tun. Damit er nicht mit uns reden musste. Dann
setzte er sich aufs Sofa und strich sich übers Gesicht.
    Â»Müde, Dad?«, fragte Truman.
    Dad nahm die Hände herunter und nickte.
    Â»Zu viel ›T und A‹?«
    Dad lachte. Als Truman noch klein gewesen war, hatte er Dad
über die DNA sprechen hören, doch als er es selbst
auszusprechen versucht hatte, hatte er nur »T und A« herausbekommen. Das war
seitdem bei uns ein Art geflügeltes Wort.
    Â»Viel zu viel, Tru. Aber wir sind nahe dran. Ganz nahe.«
    Â»Woran?«
    Â»Das Genom zu knacken. Die Antworten zu finden. Den
Schlüssel.«
    Â»Aber das musst du nicht mehr.«
    Â»Was muss ich nicht mehr?«
    Truman griff in seine Hosentasche, zog seinen kleinen
silbernen Schlüssel heraus und legte ihn unserem Vater in die Hand. Dad starrte
ihn an.
    Â»Das ist ein Schlüssel«, sagte Truman.
    Â»Das sehe ich.«
    Â»Es ist ein besonderer Schlüssel.«
    Â»Inwiefern?«
    Â»Da ist ein ›L‹ darauf. ›L‹ für Liebe. Siehst du’s? Es ist
der Schlüssel zum Universum, Dad. Du hast doch gesagt, dass du danach suchst.
Das hast du zu Mom gesagt. Ich hab ihn für dich gefunden, damit du ihn nicht
mehr suchen musst. Damit du abends heimkommen kannst.«
    Der Schlüssel lag auf Dads Handfläche. Er schloss die Finger
darum und drückte sie fest zu. »Danke,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher