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Das Blut der Lilie

Titel: Das Blut der Lilie
Autoren: Jennifer Donnelly
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nett auf ihre Art. Sie kümmert sich. Das weiß ich. Aber
ich kann mich nicht mehr beherrschen. Sie hätte Truman nicht erwähnen sollen.
Seinen Namen nicht aussprechen. Erneut steigt Wut in mir auf, schwillt immer
mehr an, und ich kann sie nicht stoppen.
    Â»Es geht nicht um mich. Es geht um Sie«, sage ich. »Es geht
um Zahlen. Wenn es letztes Jahr zwei Absolventen nach Princeton geschafft
haben, möchten Sie dieses Jahr vier dort unterbekommen. Darum geht’s hier, und
wir alle wissen das. Niemand zahlt Ausbildungskosten in Höhe des
durchschnittlichen Jahresgehalts in New Hampshire, damit sein Kind am Ende auf
einer miesen Uni landet. Die Eltern wollen Harvard, das MIT ,
die Brown. Die Juilliard macht sich gut für Sie. Für Sie, Miss Beezemeyer, nicht für
mich. Darum geht’s hier.«
    Beezie sieht aus, als hätte sie eine Ohrfeige bekommen. »Mein
Gott, Andi«, sagt sie. »Sie hätten nicht verletzender sein können, wenn Sie es
darauf angelegt hätten.«
    Â»Ich habe es darauf angelegt.«
    Sie schweigt ein paar Sekunden. Ihre Augen werden wässrig.
Sie räuspert sich und sagt: »Die Skizzen für die Abschlussarbeit sind fällig,
wenn die Schule wieder beginnt – am 5. Januar. Ich hoffe wirklich, dass die
Ihre darunter sein wird. Wenn nicht, werden Sie die Schule verlassen müssen,
fürchte ich.«
    Ich höre sie jetzt kaum mehr. Ich löse mich auf. In meinem
Kopf, in meinen Händen ist Musik, und ich habe das Gefühl zu explodieren, wenn
ich sie nicht rauslassen kann.
    Ich packe den Gitarrenkoffer. 15.21 sagt die Uhr. Mir bleiben
nur noch neununddreißig Minuten. Glücklicherweise sind die Gänge fast leer. Wie
eine Verrückte fange ich an zu rennen. Ohne aufzupassen, rase ich los, als mein
Fuß plötzlich an etwas hängen bleibt und ich durch die Luft wirble. Hart schlage
ich auf dem Boden auf, spüre, wie meine Knie, meine Brust, mein Kinn
aufknallen. Mein Gitarrenkoffer donnert auf den Boden und schlittert davon.
    Mein rechtes Knie brennt. Ich schmecke Blut im Mund, aber das
kümmert mich nicht. Mich interessiert bloß die Gitarre. Es ist eine Hauser aus
dem Jahre 1920. Aus brasilianischem Rosenholz. Sie gehört Nathan. Er hat sie
mir geliehen. Ich krieche zu dem Koffer. Brauche eine Weile, um den Verschluss
zu öffnen, weil meine Hände so stark zittern. Als ich den Deckel schließlich
hebe, sehe ich, dass alles in Ordnung ist. Nichts gebrochen. Ganz kraftlos vor
Erleichterung mache ich den Koffer wieder zu.
    Â»Hoppla.«
    Ich blicke auf. Es ist Cooper. Grinsend geht er rückwärts den
Gang hinunter. Arden Tode ist bei ihm. Ich hab’s kapiert. Er hat mir ein Bein
gestellt. Als Rache für heute Morgen.
    Â»Pass auf, Andi. Du könntest dir auch den Hals brechen«, sagt
er.
    Ich schüttle den Kopf. »Nein, das kann ich nicht«, antworte
ich. »Das ist nicht so einfach. Ich hab’s probiert. Aber danke,dass du’s
versucht hast, Coop. Ich schätze deinen Einsatz.« Blut tropft mir beim Sprechen
aus dem Mund.
    Cooper bleibt wie angewurzelt stehen. Sein Grinsen verblasst.
Zuerst wirkt er verwirrt, dann ängstlich.
    Â»Kranke Missgeburt«,zischt Arden. Sie zieht ihn am
Arm.
    Ich stehe auf und humple davon. Den Gang hinunter. Um die
Ecke. Und dann bin ich da. Endlich da. Ich reiße die Tür auf.
    Nathan blickt von einem Notenblatt auf. Er lächelt. »Wie
geht’s meinem Crazy Diamond?«
    Â»Crazy«, antworte ich mit brechender Stimme.
    Seine buschigen weißen Augenbrauen schießen nach oben. Der
Blick seiner Augen, die hinter den dicken Gläsern riesig wirken, gleitet von
meinem blutigen Mund zu meiner blutigen Hand. Er geht durch den Raum und nimmt
eine Gitarre aus der Halterung.
    Â»Wir spielen jetzt, ja?«, sagt er.
    Ich wische mir den Mund am Ärmel ab. »Ja, Nathan«, antworte
ich. »Wir spielen jetzt. Bitte. Lassen Sie uns spielen.«
    Â Â 4  
    Ich nehme immer den langen Weg nach Hause.
    Von der Pierrepont Street die Willow Street hinauf. Durch die
Straßen des alten Brooklyn. Oder was noch übrig ist davon. Dann biege ich
normalerweise in meine Straße ein, in die Cranberry Street. Aber heute Abend
habe ich wegen der Kälte die Schultern hochgezogen, den Kopf gesenkt, meine
Finger greifen Akkorde in der Luft, und ich bin so versunken in die Suite Nr.
1, dass ich stattdessen die Henry Street hinaufgehe.
    Nathan
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