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Das Blut der Lilie

Titel: Das Blut der Lilie
Autoren: Jennifer Donnelly
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Er glaubt, LaGuardia sei noch
immer Bürgermeister und die Dodgers hätten Brooklyn nie verlassen. Er trägt
diese alten Schuhe. Daher sein Nachname. Es sind Schuhe aus den Fünfzigern, wie
die Hipster sie damals trugen, rot lackiert.
    Â»Wie sieht’s aus mit Gott? Glaubst du an Gott?«, fragt er.
    Â»Wessen Gott?«
    Â»Sei nicht so oberschlau.«
    Â»Tut mir leid. Zu spät.«
    Â»Du gehst doch auf die St. Anselm, oder? Bringt man euch dort
denn keine Religion bei?«
    Â»Die Schule heißt bloß so. Den heiligen Anselm haben sie in
die Wüste geschickt, aber seinen Namen behalten.«
    Â»Mit Betty Crocker haben sie’s auch so gemacht, die
Mistkerle. Also, was bringt man euch dort bei?«
    Ich lehne mich auf der Bank zurück und denke einen Moment
lang nach. »Sie fangen mit griechischer Mythologie an – mit Zeus, Poseidon,
Hades, mit diesen Typen eben«, antworte ich. »Ich hab noch den ersten Aufsatz,
den ich je geschrieben habe. In der Vorschule. Mit vier. Er ging über Polyphem.
Der war Schafhirte. Und Zyklop. Und Kannibale. Er wollte Odysseus fressen, aber
Odysseus ist entkommen. Er hat ihm mit einen Stock das Auge ausgestochen.«
    Jimmy schenkt mir einen Blick, der höchsten Unglauben
ausdrückt. »Solchen Mist bringen sie euch im Kindergarten bei? Du nimmst mich
wohl auf den Arm?«
    Â»Ich schwör’s. Danach haben wir die römische Mythologie
durchgenommen. Dann die Nordischen Sagen. Die Gottheiten der amerikanischen
Eingeborenen. Heidnische pantheistische Überlieferungen. Keltische Gottheiten.
Buddhismus. Jüdisch-christliche Traditionen. Und islamische Studien.«
    Â»Wozu das denn, zum Teufel?«
    Â»Weil sie wollen, dass man die Welt durchschaut. Für sie ist
es wichtig, dass man Bescheid weiß.«
    Â»Worüber Bescheid weiß?
    Â»Dass es ein Mythos ist.«
    Â»Was ist ein Mythos?«
    Â»Alles, Jimmy. Das Ganze.«
    Jimmy schweigt eine Weile, dann sagt er: »Dann kommst du also
aus dieser noblen Schule raus und hast nichts? Rein gar nichts, woran du dich
halten kannst? Nichts, woran du glauben kannst?«
    Â»Na ja, vielleicht an eines …«
    Â»Woran?«
    Â»An die transformative Kraft der Kunst.«
    Jimmy schüttelt den Kopf. »Das ist ein Verbrechen. Das
sollten sie einem Kind nicht antun. Das ist Kindesmissbrauch. Möchtest du, dass
ich sie anzeige?«
    Â»Könntest du das?«
    Â»Um so was kümmert man sich. Ich hab Freunde bei der
Polizei«, sagt er und nickt vielsagend.
    Ja, denke ich. Dick Tracy wird sich gleich an den Fall
machen.
    Ich packe meine Sachen ein. Meine Füße sind fast erfroren.
Ich war stundenlang hier draußen. Jetzt ist es halb drei. Noch ein halbe Stunde
bis zum Unterricht. Es gibt nur eine einzige Sache, die mich dazu bringt, in
die Schule zu gehen: Nathan Goldfarb, der Leiter des Musikbereichs in St.
Anselm.
    Â»Hey, Kleine«, sagt Jimmy, als ich aufstehe, um zu gehen.
    Â»Was?«
    Er fischt einen Vierteldollar aus seiner Tasche. »Kauf dir
eine Eiersahne. Eine für dich und eine für deinen Schatz.«
    Â»Ach komm, Jimmy. Das kann ich nicht annehmen.«
    Jimmy hat nicht viel. Er lebt in einem Asyl auf der Hicks
Street und kriegt bloß ein paar Dollar Taschengeld die Woche.
    Â»Nimm es. Ich will, dass du es nimmst. Du bist ein Kind. Du
solltest mit deinem Liebsten in einer Milchbar sitzen, nicht in der Kälte
rumhängen, als hättest du kein Zuhause, und mit Pennern wie mir reden.«
    Â»Also gut. Danke«, sage ich und versuche zu lächeln. Es
bringt mich um, sein Geld zu nehmen, aber es nicht zu nehmen, würde ihn
umbringen.
    Jimmy erwidert mein Lächeln. »Lass dir einen Kuss geben von
ihm. An meiner Stelle.« Er hebt den Finger. »Aber bloß einen. Auf die Wange.«
    Â»Das mach ich«, antworte ich. Ich habe nicht den Mut, ihm zu
gestehen, dass ich schon ein Dutzend Typen hatte. Oder dass es so was wie
Wangenküsse nicht mehr gibt. Wir sind im einundzwanzigsten Jahrhundert, und da
heißt es mitmachen oder du bist weg vom Fenster.
    Ich strecke die Hand aus, um den Vierteldollar zu nehmen.
Jimmy stößt einen leisen Pfiff aus.
    Â»Was?«
    Â»Deine Hand.«
    Ich sehe sie an. Mein eingerissener Nagel blutet immer noch.
Ich wische das Blut an meiner Hose ab.
    Â»Das solltest du behandeln lassen. Es sieht schlimm aus«,
sagt er.
    Â»Ja, wahrscheinlich schon.«
    Â»Du musst doch
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