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Das blaue Buch - Roman

Das blaue Buch - Roman

Titel: Das blaue Buch - Roman
Autoren: Carl Hanser Verlag
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nicht wie Teile der Landschaft.
    Und auch die halbmeterdicken Schutzwälle des Potts sind durchstoßen: Ein dunkler, geschmeidiger Gang führt an einer Bruchlinie entlang und lässt das Hochwasser herein. Und den Jungen hinaus. Er krabbelt zur einen Seite eines riesigen gestürzten Brockens, drückt sich zwischen Steine, geglättet zu Konturen, die einem seltsamen Lebewesen gehören könnten. Über ihm die angenehme Bedrohung weiterer Verwerfungen, plötzlicher Stürze – vor ihm Sonnenwärme auf Oberflächen, das Schaben der Napfschnecken und ein kleines Stück Küste, das sein ist: In seinem Herzen gehört es ihm, sollte ihm gehören, wird für immer sein bleiben. Das war die einzige Sicherheit, die er wollte. Es wird nur eine andere geben, die er jemals wollen wird.
    Daheim im Häuschen wird seine Mutter noch beim Packen sein. Sie ist zwar sehr ans Umziehen gewöhnt, doch wird sie Stunden brauchen, ihre Taschen zu füllen und wieder zu leeren, alles neu zu ordnen und wieder von vorn zu beginnen. Der Junge hat ihr gesagt, dass er sich um seine eigenen Sachen selbst kümmern wird. Wie immer.
    An diesem Nachmittag liegt er zwischen den niedrigsten Felsen auf dem Rücken, schiebt und ruckelt, bis die Steine ihn richtig drücken und stechen. Hier warten Pfeiler und Throne auf ihn, Granitplattformen heben ihn in die Höhe, damit er beobachten kann, er wird es aber heute nicht tun. Er schließt die Augen und lässt das tobende Tageslicht durch die Lider bluten, der Gestank der See schließt sich schon eng um ihn, fast böse – sie hat das seltsam blanke, heißmetallische Aroma von ihm selbst, wenn er etwas Schlimmes tut, seiner selbst am Anfang der Erregung, am Anfang seiner ganzen, rot glänzenden Lebensration Sex. Um ehrlich zu sein, ist es der Duft, der schon jenseits des Anfangs kommt, wenn er sich im Neuen des Begehrens verliert, in verschwommenem Verlangen und anschwellenden Ängsten.
    Doch heute geht es um etwas anderes – nicht ums Angsthaben, nicht ums Körpersein, nicht darum, mit all dem fertigzuwerden.
    Der Junge schluckt und hält inne und öffnet die Lippen, und dann ist er zornig. Er ist rasend.
    Endlich.
    Endlich ist er außer sich. Er wütet.
    Und er ist außerdem entschlossen, dass er nicht traurig sein wird, oder verletzt, oder gespalten, oder sonstwie beschädigt, auf eine verwirrende Weise, die sich in seinem Magen, in seiner Lunge, in seinem Gesicht festsetzt – vor allem aber in seinem Bauch, in diesem geleerten Raum, wo er einen Magen hatte. Solche Gefühle wären schlecht, also ist er stattdessen vollkommen und hoffnungslos wütend. Er krallt die Finger in die Kiesel und die körnige Feuchtigkeit, und er wird niemals weinen, wird nie der Junge sein, der hier weg muss und nie zurückkehren wird, der dies verlieren wird und sich daran erinnern muss, wird nie der Junge sein, der so dumm war, dies in sich hineinzulassen und zu lieben, der Pläne machte.
    Stattdessen wird er der Junge sein, der an den Seilen in sein Geheimnis hinunterklettert, an diesen vollkommenen Ort, und der dafür sorgt, dass er anders wird, bevor alles sich ändert. Er hat beschlossen, jemand anders zu werden. Er wird hier liegen bleiben, bis er schneller wird als der Tod, bis er nur noch Geschwindigkeit ist. Er wird seine Zukunft so machtvoll herbeirufen, dass sie die Klippen in Augenblicken verwittern wird, die Kristalle schmelzen, die Schichten erschüttern, bis sie brechen. Der Tag, an dem er vom Hafen aufs Schiff steigen wird, der Tag, an dem er schon wieder zu einer neuen Schule gehen wird, der Tag, an dem er die Kleider seiner Mutter zusammenlegt, seine Mutter wegräumt und bemerkt, dass er die ganze Zeit nur daran denkt, ob er sich ein Sandwich machen soll, wenn er fertig ist – diese Zeiten werden an ihm vorübergezogen sein, ihn kaum berührt haben, und er wird umstandslos älter geworden sein, es wird ihm gutgehen. Ehe er aufsteht und den Sand von seinem erwachsenen Ich wischt, wird er Kräfte gesammelt haben, Fähigkeiten und Würde – er wird ein Mann sein, und vollkommen.
    Das ist sein Wunsch. Er glaubt so fest daran, dass seine Arme zittern und ihm schlecht wird, und wenn die Welt gerecht wäre, so würde er für seine Mühe belohnt.
    Der Atem des Jungen wird schneller, flach, verletzt und animalisch. Er runzelt die Stirn. Sandmücken wippen und bilden Wolken, geschlossene Anemonen leuchten wie Blutklumpen in schattigen Spalten, die ganze Küstenlinie brodelt sanft und gedankenlos. Er grübelt weiter, lehnt
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