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Das blaue Buch - Roman

Das blaue Buch - Roman

Titel: Das blaue Buch - Roman
Autoren: Carl Hanser Verlag
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sich gegen die Natur, sie soll nachgeben.
    Eine Stunde vergeht, mehr.
    Der Junge macht weiter. Er ist ein entschlossener Mensch.
    Doch am Ende ist er müde und durstig und unverändert, der Abend kommt und mit ihm die Flut, und weil er nicht ertrinken will, zwängt sich der Junge zurück in den Pott und bleibt eine Weile dort stehen, wo die späte Sonne ins Geröll fingert, und er stemmt seine Füße in den Boden und schreit dann seinen Namen. Er kreischt ihn. Er will, dass das Wort irgendwo hängen bleibt und einen Fleck hinterlässt, sich für spätere Zeiten dort versteckt wie ein Zauber. Dann greift er nach dem Seil und zieht seinen Körper nach oben.
    Er wusste, seine Vorhaben würden scheitern, doch sie waren alles, was er hatte.
    In einem jedoch hatte er recht – hinaufklettern ist viel leichter.

SPÄTER, MEHR ALS dreißig Jahre später, warten ein Mann und eine Frau darauf, an Bord eines Schiffs zu gehen – eines Ozeandampfers, um genau zu sein. Sie stehen in einer freundlich murmelnden und allgemein gut gekleideten Schlange und verspüren milde Enttäuschung. Sie hatten erwartet und nur halb im Scherz darüber gesprochen, wie sie vorm Einschiffen im geschäftigen Treiben am Kai stehen würden: Schauerleute, die Überseekoffer durch die saubere Seeluft schleppten, andere Paare, die in handgefertigten Schuhen flott hölzerne Gangways hinaufschritten und winkten.
    Die Frau hat Haare wie ihr Vater: dick und schwarz, mit unlogischen Lockenwirbeln. Sie wünschte, es wäre nicht so. Außerdem hat sie mehr oder weniger die Figur ihrer Mutter geerbt, so dass sie zu Schulzeiten etwas pummelig war und sich vorstellt, nachdem sie in ihren Zwanzigern und Dreißigern als kurvenreich statt mollig durchgehen konnte, dass sie in den Vierzigern, wenn ihr Stoffwechsel sich verlangsamt, verstärkt zu formlosen Strickwaren und Hosen mit elastischem Bund aus dem Versandkatalog gezwungen sein wird. Sie nimmt nicht an, dass sie das genießen wird, doch sie muss zugeben, dass sie bisher das Beste draus gemacht hat. Ihr voller Name lautet Elizabeth Caroline Barber, und sie denkt – ich hätte direkt Lust, ein wenig zu winken. Ich habe allerdings keine Ahnung, zu wem wir winken sollten. Oder wem wir zuwinken sollten. Wenn man Schlange steht, um an Bord eines Ozeandampfers zu gehen, spürt man irgendwie den Drang, grammatikalisch korrekt zu sein … es ist niemand an Land, dem wir zuwinken könnten . Außer den Schauerleuten – und ich weiß nicht, ob ich denen zuwinken sollte – schmierige Mützen und K.O.-Drinks in Hafenkneipen mit Humphrey Bogart, so sind doch Schauerleute.
    Glaube ich.
    Aber eigentlich gibt es den Beruf gar nicht mehr, oder? Oder es gibt ihn noch, aber nicht mehr in Großbritannien, weil wir keine Docks mehr haben, nicht mehr so richtig. Gibt es noch Gepäckträger am Kai? Gibt es hier überhaupt noch richtige Arbeitsplätze? Für die man eine Ausbildung braucht, für die es richtige Berufsbezeichnungen gibt, und spezielle Kopfbedeckungen? Mein Gott, als ich klein war, hatte sogar der Postbote noch eine Uniform – jetzt sieht er aus wie der Mann, der den Postboten überfallen und seinen Sack geklaut hat. Dabei hat er überhaupt gar keinen Sack mehr.
    Das lustige Postbotenrennen zu Weihnachten, mit vollen Säcken – früher haben sie davon immer was im Fernsehen gezeigt – so als heitere Schlussmeldung in den Nachrichten. Oder habe ich mir das ausgedacht? Ich bin ziemlich sicher, dass so etwas stattgefunden hat. Ein Ausdruck briefträgerischen Stolzes – irgendwie dienstbar und verschwitzt, aber dennoch stolz …
    Wird das jetzt so werden? Ich gehe an Bord und werde immer nostalgischer, dann voreingenommen, dann fürchte ich jede Veränderung und werde schließlich reaktionär? Fröhlich fixiert auf Todes- und Prügelstrafe, Straflager für ausländische Übeltäter, Sterilisationen für Arme und/oder Dumme?
    Das kommt, weil ich genervt bin.
    Genervt ist kaum zu unterscheiden von reaktionär.
    Korrektur: Genervt in einer Schlange ist kaum von reaktionär zu unterscheiden. Diese Art von unangenehm unterdrücktem Zorn und Überdruss bricht sich nicht Bahn im Feiern der brüderlichen Gemeinsamkeit aller und der allgemein menschlichen Erfahrung – nicht wenn alle einem im Weg stehen und man von jedem anderen menschlichen Wesen unvergleichlich angepisst ist.
    Hätte der Staatssozialismus mehr Vernunft besessen, hätte er nicht diese ganzen Schlangen zugelassen – das hat ihm auf lange Sicht das Genick
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