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Das Bild - Geschichte einer Obsession

Titel: Das Bild - Geschichte einer Obsession
Autoren: Jean de Berg
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Riß. Anne stieß einen Schmerzensschrei aus, der aus der Tiefe ihrer Kehle kam, und wich einen Schritt zurück. Aber sie blieb vor uns stehen, obwohl sie am ganzen Körper zitterte, mit entblößter Scham, weit offenen Augen und halbgeöffnetem Mund. Claire, die sich auf ihren Sessel hatte zurückfallen lassen, betrachtete ihr Opfer mit, wie mir schien, Haß oder der größten Leidenschaft.
Regungslos, ohne ein Wort, verharrten die beiden jungen Frauen eine ganze Weile einander gegenüber. Dann machte Anne, die immer noch ihr Kleid hochhielt, einen Schritt auf ihre Herrin zu, um, den Blicken preisgegeben, erneut ihre vorherige Position einzunehmen.
Eine kleine Perle aus Blut, von schönem lebhaftem Rot, hatte sich oben am Schenkel gebildet. Claire, deren Züge allmählich wieder sanfter wurden, beugte sich vor, ohne von ihrem Stuhl aufzustehen, und drückte einen Kuß auf jede ihrer beiden Hände.
Dann hob sie mit einem Finger den Rand des Strumpfhaltergürtels hoch, in der Nähe der linken Leiste; mit der anderen Hand führte sie den abgebrochenen Stengel unter das schwarze Gewebe und schob ihn so zur Hüfte hoch, daß die Blüte unmittelbar über dem Gazevolant zum Vorschein kam. Um sie in dieser Position festzuhalten, brauchte Claire den Dorn daraufhin nur noch nach vorne vorstehen zu lassen: sein feines gekrümmtes Ende hakte sich in der Spitze fest.
Claire lehnte ihren Oberkörper erneut zurück, um ihr Werk aus etwas größerer Entfernung zu betrachten. Die Augen zusammengekniffen, schüttelte sie den Kopf mit der Miene eines Kenners, der ein Bild beurteilt.
«Das ist hübsch, finden Sie nicht?» sagte sie zu mir, das Gesicht verziehend.
Unterhalb des mittleren Bogens, den die Spitzenunterwäsche bildete, ragte die gegen das Fleisch festgehaltene Rose auf der linken Seite, ihren Kopf nach unten geneigt, zugleich in das schwarze Gewebe und in den dreieckigen blonden Pelz hinein, dessen eine obere Ecke sie zu einem guten Teil verdeckte. Der Rand eines Blütenblattes erreichte sogar den Ansatz des Schenkels. Ebenfalls unterhalb und rechts, zwischen der unteren Spitze des Dreiecks, wo das Vlies in einen sehr feinen Federbusch auslief, und dem schwarzen Band des Strumpfhalters, schien der Blutstropfen bereit, über die Perlmutthaut zu laufen.
Ich antwortete, es sei tatsächlich sehr gelungen, wenn auch ein wenig zu symbolbeladen vielleicht, im besten Stil der surrealistischen und romantischen Tradition.
Claire lächelte. Ihr Gesicht hatte sich gänzlich entspannt. Unter dem Vorwand, ein Detail zu vervollkommnen, beugte sie sich noch einmal über ihr Werk. Sie begann jedoch, die Rose zu streicheln, wie das junge Mädchen es zuvor getan hatte, indem sie leicht die Spitze der Blütenblätter berührte und anschließend einen Finger ins Herz tauchte. Sie hörte sofort damit auf. Es schien, als sei es nur ein Spiel. Sie streichelte auch ein wenig, mit der Rückseite des Zeigefingers, das kurze lockige Vlies.
«Es ist schade», sagte sie, «daß wir keinen Fotoapparat mitgenommen haben: wir hätten eine hübsche Farbaufnahme machen können.»
Sie beugte sich etwas mehr vor und leckte sanft den roten Tropfen auf, der herunterzulaufen und den Strumpf zu beflecken drohte.
Stimmen näherten sich auf dem Weg zwischen den Lebensbaumsträuchern. Claire hob das Gesicht, um ihre Freundin mit einem ganz neuen Blick, voller Zärtlichkeit, anzusehen. Die beiden jungen Frauen lächelten sich lange an.
Das Wetter war sehr schön. Die goldenen Haare der kleinen Anne glänzten in der Sonne. Mit versöhnlicher Stimme, wie ich sie noch nie von ihr gehört hatte, sagte Claire:
«Du kannst dein Kleid herunterlassen.»

III. Ein Tee und die Folgen
    Wir nahmen den Tee im Pavillon des Parks. Claire war heiter, gesprächig, fast ein Kind. Selbst Anne sprach unbefangen und fröhlich. Ich konnte bei dieser Gelegenheit feststellen, daß sie durchaus nicht dumm war. Dabei sprachen wir nur über belanglose Themen: Gartenbau, Kunst, Literatur. Claire wollte von mir die neuesten Einzelheiten über den jüngsten Schwindel wissen, von dem sie mich am Vorabend bei unseren Gastgebern hatte reden hören. Die beiden jungen Frauen amüsierten sich sehr darüber.
Nach und nach verflog diese Unbekümmertheit jedoch. Das Gespräch stockte immer öfter. Claires Gesicht nahm schon bald wieder den verschlossenen Ausdruck an, den es zu Beginn unseres Spaziergangs gezeigt hatte. Ihre Gesichtszüge, von regelmäßiger und starrer, gleichsam ferner Schönheit,
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