Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das Bild - Geschichte einer Obsession

Titel: Das Bild - Geschichte einer Obsession
Autoren: Jean de Berg
Vom Netzwerk:
hauchte sie. «Und außerdem hat sie Dornen...»
«Na, dann wirst du dich eben stechen», antwortete Claire.
Das junge Mädchen streckte die Hand nach dem steifen Stengel der Blume aus, ergriff ihn mit Daumen und Zeigefinger und brach ihn mit einer plötzlichen Bewegung ab. Dann machte sie einen Satz nach hinten und stürzte auf Claire zu, als wollte sie bei ihr Schutz suchen, wobei sie ihre Trophäe zwischen ihren beiden Fingern hielt.
Von ihrer Pflanze getrennt wirkte die Rose noch schöner. Vor allem ihre Form war vollkommen; und das Fleisch war von einer Feinkörnigkeit, daß man Lust bekam, sie in die Hand zu nehmen oder hineinzubeißen. Claire ließ sich zu einem Zeichen der Anerkennung herab:
«Gut gemacht. Und siehst du, so schwer war es doch gar nicht... Aber du wirst bestraft werden, weil du etwas zu lange gezögert hast.»
Das junge Mädchen protestierte nicht; errötend senkte sie die Lider, in bezaubernder Unterwerfung.
Ich fragte:
«Was haben Sie mit ihr vor?»
«Ich weiß noch nicht... Aber seien Sie beruhigt: Sie wird vor Ihren Augen bestraft werden.»
Die kleine Anne hob das Gesicht wieder und schüttelte den Kopf, mit schreckerfüllten Augen; sie wollte gewiß um Milde flehen. Doch plötzlich änderte sich ihr Ausdruck, und sie murmelte:
«Da kommen Leute.»
«Na, dann gehen wir!» sagte Claire und zeigte auf das andere Ende des Weges.
Das junge Mädchen, dessen Körper durch die unseren vor den Blicken der Näherkommenden verborgen geblieben war, drehte sich schnell um, und Claire und ich nahmen sie in unsere Mitte.
Nebeneinander, gleichgültig schlendernd, setzten wir unseren Spaziergang fort. Anne, die zwischen uns ging, drückte die Rose an ihre Brust. Da niemand vor uns war, konnte auch keiner ihren Diebstahl bemerken.
Als wir an dem verstümmelten Rosenstrauch vorbeigingen, sagte Claire zu ihrer jungen Freundin:
«Siehst du die Spur deiner Füße?»
Tatsächlich war sehr deutlich der Abdruck zweier Damenschuhe mit hohen Absätzen in der lockeren Erde zu sehen.
Den Schritt etwas beschleunigend, setzten wir unseren Weg fort.
Wir kamen bald in eine Art Wäldchen aus Grünpflanzen, ziemlich abgeschlossen und vollkommen menschenleer. Da in ihm keine Blumen wuchsen, glaubten wir uns vor Gaffern sicher.Unmittelbar vor einer dichten Laubwand standen zwei Gartenstühle, aus Eisen, aber dennoch bequem. Claire setzte sich in den einen und wies mir den anderen zu:
«Setzen Sie sich, Jean», sagte sie zu mir. Und als ich zögerte: «Das kleine Mädchen muß stehenbleiben. Es muß verbergen, was es gestohlen hat.»
Ich nahm also neben Claire Platz. Anne blieb vor uns stehen, elegant und aufrecht in ihrem hübschen weißen Kleid voller Sonnenflecken, immer noch die gepflückte Rose in beiden Händen haltend, an ihr Herz gedrückt, und die Augen gesenkt.
Claire und ich betrachteten sie eine ganze Weile.
Der Schnitt ihres Rocks betonte ihre Hüften und die Schlankheit ihrer Taille. Weiter oben, unter dem weit ausgeschnittenen, schiffchenförmigen Oberteil, war zu erahnen, daß sie keinen Büstenhalter trug. Oder war es nur Einbildung? Claire wiederholte:
«Diese Rose muß versteckt werden.»
Sie wäre aufs schönste am Busen des jungen Mädchens zur Geltung gekommen. Sie hätte sie an ihrem Kleid feststecken und behaupten können, derart geschmückt bereits von draußen gekommen zu sein. Es sei denn, die Tafel verböte auch, diesen Garten mit Blumen am Dekolleté zu betreten. Ich wies auf einen buschigen Lebensbaumstrauch zu unserer Linken:
«Sie braucht sie nur da hineinzuwerfen: Niemand wird sie jemals dort finden.»
«Ja, natürlich», sagte Claire, die nachzudenken schien.
«Aber es wäre schade, eine so schöne Blume zu verlieren. Nicht wahr, Kleines?»
«Ja. Nein. Ich weiß nicht», antwortete das junge Mädchen. Nach einem Augenblick des Schweigens erklärte Claire, die ihre Freundin aufmerksam beobachtete:
«Es ist ganz einfach: Du brauchst sie nur an dir zu verstecken.»
Da das junge Mädchen nicht zu verstehen schien, denn sie trug weder ein Kleid mit einer Tasche noch eine Handtasche, wurde Claire deutlicher: «Unter deinem Rock.» Und sofort danach: «Du wirst es gleich sehen, komm her.»
Die kleine Anne kam näher.
«Heb dein Kleid hoch», befahl Claire.
Gleichzeitig nahm sie ihr die Rose aus den Händen. Anne bückte sich, um die Unterkante ihres Rocks zu fassen, und drehte den Saum um, um ihn Claire zu präsentieren, in Höhe der Knie. Claire fing an zu lachen: «Aber nein, kleine Närrin, du
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher