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Das Bild - Geschichte einer Obsession

Titel: Das Bild - Geschichte einer Obsession
Autoren: Jean de Berg
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voll, mit gesäumten, deutlich voneinander getrennten Blütenblättern und mit einem Herzen, das halb geschlossen blieb.
Die schönste von allen - stets nach der Meinung unserer Führerin - war zart fleischfarben, zur Mitte hin dunkler werdend, wo die halbgeöffneten Blütenblätter zusammen einen tiefen schattigen Brunnen bildeten. Das Innere schien von lebhafterem Rosa.
Nach einigen Augenblicken der Betrachtung warf Claire einen raschen Blick auf die Umgebung. Wir waren allein in dieser abgelegenen Ecke des Gartens. Die nächsten Spaziergänger, etwa zwanzig Meter entfernt, blickten nicht in unsere Richtung, angelockt von einer Gruppe auffälligerer Rosenstöcke.
Als ich den Kopf wieder meinen beiden Begleiterinnen zuwandte, sah ich, daß Claire nicht mehr die fleischfarbene Rose betrachtete, sondern ihre Freundin. Diese stand reglos da, mit niedergeschlagenen Augen, wie es ihre Gewohnheit war, weniger als einen Meter von der Blume entfernt, ganz am Rand der Allee. Ich befand mich selbst in diesem Augenblick etwas dahinter, in der Nähe von Claire. Mein Blick wanderte von dem jungen Mädchen im weißen Kleid zu der Blume und kehrte dann zu dem Mädchen zurück.
Claires Stimme ertönte neben mir:
«Geh noch näher heran.»
Der Ton war der eines Befehls, ruhig, aber keinen Widerspruch duldend, Gehorsam gewohnt. Dennoch kam die Stimme mir verändert vor; tiefer und heftiger als vorhin, als es lediglich darum ging, unsere Schritte durch den Park zu lenken oder die Vorzüge der Rosen zu vergleichen.Die kleine Anne verlangte keine Erklärungen hinsichtlich dessen, was man von ihr fordern würde. Nach einem unmerklichen Zögern warf sie uns, die wir ihr zum Teil die belebteren Gegenden des Gartens verbargen, einen flüchtigen Blick zu.
Claire wiederholte: «Na komm schon! Rasch!»
Und die kleinen Füße machten einen Schritt vorwärts auf der lockeren Erde der Rabatte, in der die schmalen Sohlen und die hohen Absätze einsanken. Mir war bis dahin nicht aufgefallen, wie schmal ihre Knöchel waren. Was man von ihren Beinen sehen konnte, machte ebenfalls nur den besten Eindruck.
«Streichle sie jetzt», sagte Claire.
Anne streckte ihre rechte Hand nach dem halbgeöffneten Herz der Blume aus. Ganz sacht berührten ihre Fingerspitzen den äußeren Rand der halbgeschlossenen Blütenblätter, streiften kaum das rosige, zarte Fleisch. Langsam kreiste sie mehrmals um die Höhlung in der Mitte. Dann spreizte sie zart den oberen Teil der Blütenblätter auseinander und schob sie erneut zusammen, mit der Spitze ihrer fünf sich berührenden Finger.
Nachdem sie auf diese Weise zwei- oder dreimal die Öffnung verbreitert und wieder geschlossen hatte, steckte sie ganz plötzlich den Mittelfinger hinein, der fast ganz in der Höhlung verschwand. Anschließend zog sie ihren Finger ganz langsam heraus..., um ihn sofort wieder energisch hineinzutauchen.
«Sie hat schöne Hände, finden Sie nicht?» fragte Claire.
Ich stimmte zu. Und sie hatte tatsächlich eine sehr schöne Hand, weiß, klein, schlank, mit anmutigen und präzisen Bewegungen.
Claire sprach gegenwärtig in dem gleichen Ton, provozierend und grausam, wie am Abend zuvor im Cafe. Mit einer etwas verächtlichen Miene wies sie auf das junge Mädchen, das eifrig fortfuhr, das Innere der Rose zu streicheln:
«Sie liebt das, wissen Sie. Es erregt sie. Wir könnten es nachprüfen, wenn es Ihnen Spaß macht. Schon ein Nichts läßt sie ganz feucht werden. Nicht wahr, Kleines?»
Sie erhielt keine Antwort.
«Das genügt», sagte Claire. «Pflück sie und bring sie her.»
Anne zog die Hand zurück. Aber dann erstarrte sie, die Arme unbeweglich am Körper.
Ich wandte mich zum Anfang des Weges um, auf dem wir von der Hauptallee hierher gekommen waren; niemand kam von dieser Seite, niemand kümmerte sich um uns. Claire sagte jetzt mit härterer Stimme:
«Was ist, worauf wartest du?»
«Ich trau mich nicht», sagte das junge Mädchen. «Es ist verboten.»
Man hörte ihre Worte kaum, so unsicher waren sie. Claire warf mir ein ironisches Lächeln zu, um mich zum Zeugen der Dummheit ihrer Schülerin zu machen:
«Natürlich ist es verboten... Genauso wie das Betreten der Rabatten... und das Berühren der Blumen! Das stand ja am Parkeingang.»
Etwas leiser, gleichsam eine zärtlichere Ermutigung, fügte sie dennoch hinzu: «Alles, was ich liebe, ist verboten, das weißt du doch.»
Anne streckte die Hand nach dem steifen Stengel aus, unterbrach jedoch sofort ihre Bewegung:
«Ich kann es nicht»,
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