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Das Bett

Titel: Das Bett
Autoren: Martin Mosebach
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Ränder seiner gesammelten Kupferstiche beschnitt und damit die Blätter auf immer neue Formate brachte. Aus einem Rechteck wurde ein Quadrat, aus einem Quadrat wurde ein Achteck, aus einem Achteck ein Kreis, und wenn man, schnapp, schnapp, aus zwei schließlich kreisrund zusammengeschmolzenen Bildern noch je ein Segment herausschnitt, konnte man diese Kreise zu einer großen Acht zusammensetzen, die aussah, als wohne man der Zellteilung eines Kupferstichs bei. Leben sollte in all das vergilbte Papier fahren, wenn er es wie einen Rosenstock im Herbst stutzte, aber seine rabiaten Schnitte ließen keine Hoffnung auf eine neue Blüte zu. Seine Schwiegersöhne haßten sein Werk. In ihrer Phantasie wuchs das Ausmaß der Werte, die mein Großvater zerstörte, in immer größere Höhen, und zwar je kleiner der Bestand an unbearbeiteten |26| Blättern wurde. Nach seinem Tod war schließlich von einer Sammlung von beinahe europäischer Bedeutung die Rede, die seinem Formwillen zum Opfer gefallen sei, Grundstücke, ja ganze Straßenzüge hätten nun angeblich von den auf Streichholzschachtelgröße reduzierten Ridingern einstmals erworben werden können, vor allem in der schlechten Zeit, in der so viele Menschen mit nichts angefangen hatten, mit einem alten Autoreifen ein Trümmergrundstück eingekauft werden konnte, für eine Zigarette ein Waggon voll Braunkohle. Nein, dafür sei er zu anständig gewesen, zu vornehm, aber zu Hause zu sitzen und mit der Papierschere das Erbe seiner Töchter zu zerstören, dazu sei er sich nicht zu fein gewesen. Für jedes Kind ein Haus auf der Baumschulallee – daraus war nun nichts geworden, trotz all der Sparsamkeit und der sorgfältigen Überwachung der gewissenlosen Dienstmädchen.
    Diese Überwachungsgänge nahm er meist vor seiner Morgentoilette vor, da er glaubte, daß man seiner Kontrolle zu so früher Stunde noch nicht gewärtig sein werde. Er verzichtete auf die Rasur, weil er dazu um heißes Wasser bitten mußte, mit der Folge, daß der Herd vor der Inspektion geheizt worden wäre und durch das Klingeln zugleich die Dienstmädchen die Gelegenheit erhielten, das Erforderliche zu tun, um den wahren Stand der Vorräte zu verschleiern. Er steckte daher sein Nachthemd in seine langen Unterhosen, legte einen französischen Offiziersgürtel um seine Hüften, um die Hose vor dem Herabrutschen zu sichern, und setzte den Filzhut auf, den er auf seinen Bergwanderungen zu tragen pflegte. Geräuschlos tappte er durchs Haus, öffnete die Türen der Schlafzimmer seiner Töchter und sah hinein, wischte mit bösem Murmeln Staub in seinem Schreibzimmer und stieg schließlich mit knackenden Knien in die Küche hinab, die zu dieser frühen Stunde blank und leer dalag, die Töpfe gescheuert in den Regalen, die Tische mit weißen Holzplatten, der Herd sauber und kalt in der Mitte und im Hintergrund die Tür zur Vorratskammer. Nachdem er die Küche eine Weile betrachtet hatte, öffnete er diese Tür und atmete die kühle Luft, die ihm entgegenschlug: Dort standen die Stellagen mit Äpfeln und Kartoffeln, das Sauerkraut- |27| und das Gurkenfaß, Marmeladengläser und ein großes Glas mit eingelegten Eiern, in der Ecke ein Faß Apfelwein. Das waren seine Soldaten, er rief sie stumm auf, daß sie sich meldeten, aber selbst, wenn er sicher war, daß alles da war, blieb ein Rest von Mißtrauen in ihm zurück. Dann suchte er aus seinem Schlüsselbund den Schlüssel zum Weinkeller heraus und schloß den hinter der Vorratskammer liegenden Keller auf. War er vorher in seiner Kaserne gewesen, so war er jetzt in seiner Schatzkammer. Er legte den staubigen, flötenschlanken braunen und grünen Flaschen zart die Hand auf und ging von einer zur anderen, gelegentlich eine aus dem Regal nehmend und ihr Etikett wie etwas völlig Neues und Überraschendes studierend. So glich er dem sterbenden Kardinal Mazarin, der zum letztenmal eine Cellini-Bronze betastet, und tatsächlich befiel ihn stets das tragische Gefühl des Abschieds, wenn er seine Unterhosen hochzog, den Keller verließ und wieder sorgfältig abschloß. Diesen Augenblick, in dem ihr Vater nach seiner Patrouille das Souterrain wieder verließ, soll meine Mutter abgewartet haben, um in aller Ruhe die geplante Tat auszuführen.
    Nun war das Gedächtnis meiner Mutter lückenhaft, die Welt formte sich ihr nach ihren eigenwilligen Grundvorstellungen. Sie empfand als Kausalität, was sich in Wahrheit nur für sie allein verständlich aneinanderknüpfte. Ihr radikaler
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