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Das Bett

Titel: Das Bett
Autoren: Martin Mosebach
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sie jedenfalls eine eher niedrige Anzahl der Rückfälle, die sie übrigens nicht nur der durchgeistigten Sittenstrenge der Eremiten – manche freilich waren Familientäuscher und Heiratsscheue – zuschrieb, sondern vor allem einem Gesetz der Gewohnheit, das für jeden Menschen galt, nur für sie selbst nicht. Sie begann jeden Tag mit einer neuen Bereitschaft, sich überraschen oder enttäuschen zu lassen. Der Schlaf löschte alle Erinnerung an den vorigen Tag einfach aus. Dennoch machte die Strenge des Beichtvaters mit seinen zornig zitternden Ohren sie nachdenklich.
    Erschien es ihr immer noch sinnvoll und geboten, Genofefa Hauff aufgenommen und ihr insbesondere die Beaufsichtigung der Kinder anvertraut zu haben? »Kinder können noch am besten mit den Wahnsinnigen«, hatte sie meinem ratlosen Vater erklärt, der nach dem Einzug der Genofefa in unserer Etagenwohnung nur noch selten sein Zimmer verließ. Dabei war er es, der von dem Schicksalsschlag, der Genofefas Eltern getroffen hatte, derart bewegt sprach, daß meine Mutter kurzerhand in der Klinik, in der man das Mädchen mit Elektroschocks wieder zu Verstand zu bringen versuchte, anrief und sie für kurze Ferien zu uns einlud. Die Eltern des Mädchens, die auf dem Lande in einer kleinen, altmodischen, einem Gutshof nicht unähnlichen Fabrik |20| Pappkartons herstellten, hatten zu meiner Mutter ein ähnliches Vertrauen wie zu dem Professor, der ihr Kind seinen strapaziösen elektrischen Verfahren unterwarf, obwohl diese Kur während des Aufenthaltes der jungen Verrückten bei uns ausgesetzt werden mußte. Sie brauchten nur die resolute Stimme meiner Mutter am Telephon zu hören, um jenen professionell-heiteren Umgang mit ihrem höchstpersönlichen Kummer darin wiederzufinden, den sie auch bei den Ärzten kennengelernt hatten.
    Auf Genofefa muß die Entschlossenheit, mit der meine Mutter sie aus der Anstalt abholte, eine ähnliche Wirkung gehabt haben wie auf ihre Eltern, nur daß der Wahnsinn ihr andere Kombinationen ermöglichte, als sie in dem Vorstellungsvermögen der braven Geschäftsleute vorgesehen waren. Genofefa erzählte meinem Bruder und mir, kaum daß sie nach ihrer Ankunft mit uns allein gelassen wurde, meine Mutter, die sie aus ihrer vergitterten Zelle geführt hatte, und der Oberarzt, der ihr die schönen Elektroschocks so regelmäßig zufügte, unterhielten »ein problematisches Liebesverhältnis«, das bereits einen umfangreichen Briefwechsel hervorgebracht habe, den sie uns mit leichter Mühe rekonstruieren könne. Meine Mutter und der Oberarzt lebten ihre Liebe, nach den eifrigen Worten Genofefas, auf zahllosen Reisen aus, immerfort waren die beiden unterwegs. In Bahnhofswartesälen, in den Eingangshallen verkommener Hotels und an den Fußgängerüberwegen der großen Straßenkreuzungen saßen sie auf ihren Koffern und schrieben ihre Briefe, die sie dann einander übergaben, mit kleinen Geschenken, die sie am Wegesrand aufgelesen hatten, einem alten Schuh, einer zerstörten Trompete oder einem Schnuller aus feinem Gummi. Eine solche Liaison meiner Mutter leuchtete mir und meinem Bruder sofort ein, obwohl wir sie tagaus, tagein sahen und all die Reisen, von denen Genofefa uns berichtete, gar nicht stattfinden konnten.
    Wir fanden es vielmehr selbstverständlich, daß meine Mutter sich zu uns setzte, um mit uns zusammen zuzuhören, wenn Genofefa die von ihr selbst hergestellte Kopie eines Liebesbriefs meiner Mutter an den Oberarzt vorlas und die zum Verständnis erforderlichen |21| Erklärungen, den Ort der Niederschrift und die Antwort des Oberarztes, je nach unseren Fragen, hinzufügte. Wir bewunderten Genofefas wildes großes Gesicht, wenn sie schrie und sang, und wir verstanden die Bemerkung meiner Mutter, Genofefa sei einmal ein schönes Mädchen gewesen, als sei die Schönheit des Menschen nur eine vorbereitende, vorübergehende Phase, die ihn zu Wildheit und Großheit führen sollte. Genofefa wuchs schon dadurch, daß sie sich mit weit auseinandergespreizten Beinen vor uns aufstellte und sich dabei die Kämme herausriß, die meine Mutter ihr unter beruhigendem Zureden ins Haar gesteckt hatte. Dann wankte sie von einem Bein auf das andere, legte den Kopf in den Nacken und schüttelte ihre großen Locken aus, während mein Bruder und ich auf kleinen Kissen aus unseren Gitterbetten vor ihr auf dem Boden saßen und sie ebenso aufmerksam betrachteten wie die als Nikolaus verkleidete Kinderärztin am St. Nikolaustag.
    Und war sie nicht eine
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