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Das Bernsteinzimmer

Das Bernsteinzimmer

Titel: Das Bernsteinzimmer
Autoren: Heinz G. Konsalik
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die Sonne an. Was, konnte ich nicht verstehen, aber eine Stimme hatte er dabei, eine Stimme sag ich dir. Als wenn du auf Metall schlägst! Es dauert nicht lange, da ist er völlig übergeschnappt. Wäre verdammt schade, wenn wir ihn in eine Anstalt bringen müßten.«
    Auch Reverend Killroad war über den Verfall seines Altarspenders bestürzt. Beim letzten Besuch auf der Terrasse hatte Calling gesagt: »Ich komme nicht weiter. Ich komme nicht weiter! Die schwedische Flotte weicht mir aus. Es kommt zu keiner Schlacht. Wie kann ich einen Sieg erringen, wenn ich keinen Gegner finde?!«
    »Das ist wirklich ein Problem«, hatte der Reverend geantwortet. »Es hat noch nie was eingebracht, gegen Schatten zu kämpfen.«
    »Schatten. Das ist es, John. Schatten. Überall Schatten. Die Welt wird immer dunkler … Schatten! Wer nimmt die Schatten weg?«
    Killroad hatte sich daraufhin schnell wieder verabschiedet, war zu Dr. Simson, einem Psychiater, gefahren und hatte ihn gefragt, wann ein Irrer soweit sei, daß man ihn in einem Heim betreuen müsse. Dr. Simson, durch den täglichen Umgang mit geistig Verwirrten zum Zyniker geworden, hatte Killroad angesehen mit dem forschenden Blick eines Seelenkenners und dann gefragt:
    »Mann oder Frau?«
    »Mann.«
    »Wie alt?«
    »Ich glaube siebenundsechzig …«
    »Kein Alter … wird er kindisch?«
    »Nein.«
    »Läuft er mit einem Beil herum und will jeden erschlagen?«
    »Im Gegenteil, er ist der friedlichste Mensch, den ich je kannte. Ein stiller Träumer, der nicht einmal eine Fliege töten könnte …«
    »Debil ist er also?« Dr. Simson schüttelte den Kopf. »Wir alle sind mehr oder weniger debil, Reverend. Wir merken es bloß nicht. Solange der Mann noch für sich sorgen kann und nicht über die Wiese kriecht und Gras frißt, sehe ich keinen Grund, ihn in einer Anstalt restlos fertigzumachen. Zufrieden?«
    »Nein, Doktor.« Killroad verließ die Praxis mit dem Gedanken, daß sich Nervenärzte mit den Jahren doch immer mehr ihren Patienten anglichen. Ron Calling war ein schwerkranker Mann, das war für ihn sicher, aber keiner konnte ihn zwingen, zu einem Arzt zu gehen. Ein jeder Mensch hat ein Recht auf seinen eigenen Körper und sein Leben.
    Es war der 10. Oktober 1987, als über alle Rundfunksender die Sturmmeldung gebracht wurde: Ein Orkan mit 200 km Geschwindigkeit raste auf die Küste zu. Auch in Whitesands rechnete man mit Schäden, schlug Bretter vor die Schaufenster, ließ die Autos in der Garage, brachte alles Bewegliche im Haus in Sicherheit … mehr konnte man nicht tun. Nur noch weglaufen, aber das war nicht die Art der Whitesandser. Sie krempelten die Ärmel hoch.
    Um elf Uhr vormittags hatte der Sturm die Küste erreicht. Ein lautes Heulen war in der Luft, der Himmel wurde bleigrau, die Palmen bogen sich, und die ersten Blechdächer von Schuppen wirbelten durch die Luft. Vom Strand wehte der feine, weiße Sand wie eine riesige Wolke über Häuser und Hügel und deckte vor allem das Haus von Ron Calling zu, das jetzt mitten im Sturm lag.
    Nur eine halbe Stunde nach Ausbruch des Orkans kam das Meer. Wellen so hoch wie Häuser, donnerten gegen die Küste und begruben und zerschlugen alles, was sich ihnen in den Weg legte. Ein einziger Wirbel war es, ein Heulen und Kreischen, ein Donnern der niederstürzenden Wogen, und gewaltig zog sich ein Vorhang aus Sand, Erde, weggerissenen Büschen und im Sturm schwebenden Bäumen zwischen Meer und Himmel hoch.
    Joe Williams saß zusammengekauert auf seinem Prunksessel im Bernsteinzimmer, hatte die Jalousien hochgezogen, aber die Fenster geschlossen gehalten. Auf den spanischen Stock gestützt, starrte er auf das Inferno vor sich, auf den Flugsand, auf die herandonnernden Wellen, auf die sich biegenden oder mit der Wurzel herausgerissenen Palmen und Bäume, auf die große Platane, die mitten im Stamm wie von einem Riesen abgedreht wurde, und auf die Schindeln, die von der hohen Mauer wie Geschosse durch die Gegend flogen.
    Gegen ein Uhr mittags stemmte sich Joe Williams aus dem Sessel hoch, ging, auf den Zarenstock gestützt, zu dem mittleren Fenster und blickte hinüber zu der kleinen Bucht, in der die ›russische Flotte‹ ankerte. Die Riesenwellen hatten die Bucht nicht nur überspült, sondern völlig zerstört. Es gab keine Bucht mehr, sondern nur noch eine wild ausgezackte Küste, die nach jeder Welle ihre Form veränderte und vom Meer gefressen wurde.
    »Meine Schiffe …«, stammelte Joe. »Meine Flotte … meine schöne
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