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Das Bernstein-Teleskop

Das Bernstein-Teleskop

Titel: Das Bernstein-Teleskop
Autoren: Philip Pullman
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Aufwachen kein einziges Mal an sie gedacht.
    Will blieb stehen und betrachtete den groben Leinenstoff, den sein Vater ihm nach ihrem Kampf um die Hand gewickelt hatte. Der Verband glänzte fettig von der Salbe, die er darauf verstrichen hatte, aber Blutflecken waren nicht zu sehen. Da Will seit dem Verlust der Finger ständig geblutet hatte, war er jetzt darüber so froh, dass sein Herz vor Begeisterung einen Sprung machte.
    Er bewegte probeweise die anderen Finger. Zugegeben, die Wunden taten immer noch weh, aber anders: Es waren nicht mehr die stechenden, jede Lebenskraft aus seinem Körper saugenden Schmerzen vom Vortag, sondern begrenztere, dumpfere Schmerzen, als ob die Wunden zuheilten. Das hatte sein Vater bewirkt. Der Zauber der Hexen hatte versagt, aber sein Vater hatte ihm geholfen.
    Jubelnd sprang er den Berg hinunter. Was der Engel von seinem Stimmungsumschwung hielt, kümmerte ihn nicht. Er brauchte drei Stunden und der Engel musste verschie dene Male korrigierend eingreifen, bis er den kleinen blauen See erreichte. Mittlerweile quälte Will heftiger Durst und der Mantel lastete in der sengenden Sonne schwer und heiß auf ihm. Doch als er ihn jetzt abnahm, brannte die Hitze auf seinen nackten Armen und seinem Hals. Will ließ ihn mit dem Rucksack fallen und rannte die letzten Meter zum Wasser. Dort warf er sich hin, schöpfte das eiskalte Wasser mit den Händen und schluckte es dankbar. Es war so kalt, dass davon seine Zähne und sein Schädel schmerzten.
    Nachdem er seinen Durst gestillt hatte, richtete er sich auf und sah sich um. Am Vortag hatte Will dafür keinen Sinn gehabt, doch jetzt nahm er das intensive Blau des Wassers wahr und hörte aus allen Richtungen das durchdringende Sirren der Insekten.
    »Balthamos?«
    »Zur Stelle wie immer.«
    »Wo ist der Tote?«
    »Hinter dem hohen Felsen rechts von dir.«
    »Sind hier irgendwo Gespenster unterwegs?«
    »Nein.«
    Will nahm Rucksack und Mantel, lief am Seeufer entlang und stieg dann den Felsen hinauf, den Balthamos ihm gezeigt hatte.
    Auf der anderen Seite sah er ein kleines Lager, fünf oder sechs Zelte und die Überreste von Feuerstellen. Vorsichtig kletterte er hinunter. Vielleicht lebte ja noch jemand und hatte sich versteckt.
    Doch von dem harmlosen Gesumme der Insekten abgesehen herrschte völlige Stille. In den Zelten rührte sich nichts, der See lag friedlich da, und die Wellen, die er beim Trinken erzeugt hatte, breiteten sich immer noch langsam aus. An seinem Fuß bewegte sich etwas Grünes. Will zuckte zusammen, aber es war nur eine kleine Eidechse.
    Der Stoff der Zelte war braungrün gefleckt, eine Tarnfarbe, die sie inmitten der dunkelroten Felsen allerdings nur noch auffälliger machte. Der Junge sah in das erste hinein. Es war leer. Ebenso das zweite. Aber im dritten fand er etwas, das er gebrauchen konnte: Feldgeschirr und eine Schachtel Streichhölzer, außerdem einen Strang einer dunklen, festen Masse so lang und dick wie sein Unterarm. Zuerst hielt er es für Leder, aber im hellen Sonnenlicht erkannte er, dass es sich dabei um Trockenfleisch handelte.
    Doch wozu hatte Will das Messer? Er schnitt eine dünne Scheibe ab. Das Fleisch war zäh und etwas salzig, schmeckte ansonsten aber gut. Er steckte Fleisch, Streichhölzer und das Kochgeschirr in seinen Rucksack und durchsuchte noch die anderen Zelte. Sie waren alle leer. 
    Das größte Zelt sparte er sich bis zum Schluss auf.
    »Ist da der Tote drin?«, fragte er ins Leere.
    »Ja«, antwortete Balthamos. »Er wurde vergiftet.«
    Will ging vorsichtig um das Zelt herum zum Eingang, der sich zum See öffnete. Neben einem umgekippten Campingstuhl lag die Leiche des Mannes, der sich in Wills Welt Sir Charles Latrom genannt hatte und in Lyras Welt Lord Boreal; derselbe Mann, der das Alethiometer gestohlen und dadurch Will zu dem Magischen Messer geführt hatte. Sir Charles war gerissen, falsch und mächtig gewesen und jetzt war er tot. Sein Gesicht hatte sich zu einer hässlichen Fratze verzerrt. Will wollte ihn nicht anschauen, doch zeigte ein Blick in das Zelt, dass dort viele brauchbare Dinge herumlagen. Er stieg über die Leiche, um sich genauer umzusehen.
    Sein Vater, der Soldat und Forscher, hätte genau gewusst, was sich mitzunehmen lohnte. Will konnte nur raten. Er nahm eine kleine Lupe in einem Etui aus Stahl, mit der er Feuer machen und Streichhölzer sparen konnte; weiter eine Rolle einer starken Schnur; eine Feldflasche aus Metall, die viel leichter war als seine Flasche aus
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