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Das Bernstein-Teleskop

Das Bernstein-Teleskop

Titel: Das Bernstein-Teleskop
Autoren: Philip Pullman
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Affe hatte Recht. Sie versteckte nicht nur Lyra, sie versteckte sich selbst.
     
     
    Aus dem Dunkel trat voller Hoffnung und zugleich Angst der kleine Junge. »Lyra«, flüsterte er immer wieder. »Lyra - Lyra - Lyra ... «
    Hinter ihm tauchten weitere Gestalten auf, noch schattenhafter als er und noch leiser. Sie schienen zur selben Gruppe zu gehören wie er und von dergleichen Art zu sein. Doch konnte man keine Gesichter sehen, keine Stimmen hören, und auch seine Stimme klang nie lauter als ein Flüstern, und sein Gesicht war schattenhaft und verschwommen wie etwas, das man schon fast vergessen hat.
    »Lyra ... Lyra ... «
    Wo waren sie?
    Auf einer weiten Ebene unter einem bleigrauen Himmel, von dem kein Licht herunterschien. Dichter Nebel verhüllte den Horizont auf allen Seiten. Der Boden bestand aus nackter Erde, fest gestampft von Millionen von Füßen. Doch wogen diese Füße leichter als Federn, also musste es die Zeit gewesen sein, die ihn festgestampft hatte. Aber die Zeit stand an diesem Ort still. Demnach verhielten sich die Dinge hier ebenso, wie man sie antraf. Dies war das Ende aller Orte und die letzte aller Welten.
    »Lyra ... «
    Warum waren sie hier?
    Sie wurden gefangen gehalten. Jemand hatte ein Verbrechen begangen, aber niemand wusste, was für eins oder wer es getan hatte oder wer über ihn zu Gericht saß.
    Warum rief der Junge fortwährend Lyras Namen?
    Hoffnung.
    Wer waren sie?
    Geister.
    Und Lyra konnte sie nicht berühren, so sehr sie sich auch anstrengte.
    Immer wieder griffen ihre Hände ins Leere, und immer noch stand der Junge flehend da.
    »Roger«, rief sie, doch es war nicht mehr als ein Flüstern. »Ach, Roger, wo bist du denn? Was ist das für ein Ort?«
    »Die Welt der Toten, Lyra«, antwortete er. »Ich weiß nicht, was ich tun soll - ich weiß nicht, ob ich für immer hier bleibe und ob ich etwas Böses getan habe, denn ich wollte doch brav sein, aber ich halte es hier nicht aus, ich habe Angst vor allem, ich halte es nicht aus -«
    Und Lyra sagte: »Ich...

Balthamos und Baruch

    »Seid still«, sagte Will, »bitte. Stört mich nicht.«
    Eben erst hatte man Lyra verschleppt, kurz nachdem er den Berg heruntergekommen war, wo vor wenigen Momenten die Hexe seinen Vater umgebracht hatte. Er zündete die kleine Blechlaterne mit einem trockenen Streichholz an. Beides hatte er bei den Sachen seines Vaters gefunden. Dann ging Will im Windschatten des Felsens in die Hocke und öffnete Lyras Rucksack.
    Er fühlte mit der gesunden Hand hinein und ertastete das schwere, in Samt eingeschlagene Alethiometer. Es schimmerte im Licht der Laterne, und er hielt es den beiden Gestalten entgegen, die neben ihm standen. Wesen, die sich Engel nannten.
    »Könnt ihr damit umgehen?«, fragte er.
    »Nein«, sagte eine Stimme. »Aber du musst jetzt mit uns kommen. Wir bringen dich zu Lord Asriel.«
    »Warum seid ihr meinem Vater gefolgt? Ihr sagtet, er hätte nichts von euch gewusst, aber das stimmt nicht.« Will klang trotzig. »Er sagte, Engel würden mich führen. Er wusste mehr als ihr. Wer schickt euch?« 
    »Niemand. Wir kommen aus eigenem Antrieb«, ertönte wieder die Stimme. »Wir wollen Lord Asriel dienen. Aber was, sagte der Tote, sollst du mit dem Messer tun?«
    Will zögerte.
    »Er verlangte, ich solle es Lord Asriel bringen.«
    »Dann komm mit uns.«
    »Nein. Erst wenn ich Lyra gefunden habe.«
    Er schlug das Alethiometer wieder in den Samt ein und steckte es in seinen Rucksack. Dann wickelte Will sich gegen den Regen in den schweren Mantel seines Vaters. Die beiden Schatten ließ er dabei nicht aus den Augen.
    »Sprecht ihr auch die Wahrheit?«, fragte er.
    »Ja. Immer.«
    »Dann seid ihr stärker als die Menschen oder schwächer?« 
    »Schwächer. Ihr besteht aus Fleisch und Blut, wir nicht. Trotzdem musst du unbedingt mit uns kommen.«
    »Nein. Wenn ich stärker bin, müsst ihr mir gehorchen. Außerdem habe ich das Messer. Ich kann euch also befehlen. Helft mir Lyra zu finden, egal wie lange das dauert. Zuerst will ich sie finden, dann gehe ich zu Lord Asriel.«
    Die beiden Gestalten schwiegen. Dann entfernten sie sich schwebend ein Stück und besprachen sich. Was sie sagten, konnte Will nicht verstehen.
    Schließlich glitten sie wieder heran.
    »Also gut. Du machst zwar einen Fehler, aber du lässt uns keine Wahl. Wir helfen dir, das Kind zu finden.«
    Will versuchte das Dunkel mit den Augen zu durchdrin gen und sie deutlicher zu sehen, bekam aber nur Regen in die Augen.
    »Kommt
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