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Das Bernstein-Teleskop

Das Bernstein-Teleskop

Titel: Das Bernstein-Teleskop
Autoren: Philip Pullman
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warten, bis der Sud abgekühlt war.
    In der Höhle befanden sich einige Ausrüstungsgegenstände aus dem Lager am blauen See, wo Sir Charles Latrom ums Leben gekommen war: ein Schlafsack, ein Rucksack mit Kleidern zum Wechseln, Waschsachen und noch einiges mehr. Auch eine mit Kapok gefütterte Leinentasche mit einem stabilen Holzrahmen stand dabei, die verschiedene Instrumente enthielt. Daneben lag in einem Holster eine Pistole.
    Der Sud kühlte in der dünnen Luft rasch ab. Sobald er die Temperatur von Blut erreicht hatte, goss Mrs. Coulter ihn sorgfältig in einen Becher aus Blech und ging damit in den hinteren Teil der Höhle. Der AffenDæmon ließ den Pinienzapfen fallen und folgte ihr.
    Vorsichtig stellte sie den Becher auf einen flachen Stein und kniete sich neben die schlafende Lyra. Der goldene Affe hielt sich geduckt auf der anderen Seite bereit, um den schlafenden Dæmon zu packen, falls der aufwachen sollte.
    Lyras Haare waren verschwitzt und ihre Augen bewegten sich hinter den geschlossenen Lidern. Sie begann sich zu rühren. Mrs. Coulter hatte, als sie sie geküsst hatte, das Flattern ihrer Lider gespürt und wusste daher, dass Lyra bald aufwachen würde.
    Sie schob eine Hand unter den Kopf des Mädchens und mit der anderen strich sie ihr die Haare aus der Stirn. Lyras Lippen teilten sich und sie stöhnte leise, doch ihre Augen blieben fest geschlossen. Pantalaimon drückte sich noch enger an ihre Brust. Der goldene Affe ließ Lyras Dæmon keine Sekunde aus den Augen. Nervös zupften seine kleinen schwarzen Finger an einem Zipfel des Schlafsacks.
    Ein Blick von Mrs. Coulter reichte, und er ließ den Zipfel los und wich eine Handbreit zurück. Die Frau hob ihre Tochter vorsichtig an den Schultern an. Lyras Kopf fiel zur Seite und ihr Atem stockte. Die Augen unter den flatternden Lidern gingen träge einen Spalt weit auf.
    »Roger«, murmelte sie. »Roger ... wo bist du ... Ich kann dich nicht sehen ... «
    »Pst«, flüsterte ihre Mutter. »Ganz ruhig, mein Schatz! Trink das hier!«
    Sie hielt den Becher an Lyras Mund und kippte ihn, bis ein Tropfen die Lippen des Mädchens befeuchtete. Lyras Zunge spürte ihn und bewegte sich, um ihn abzulecken. Mrs. Coulter kippte ihr ganz vorsichtig etwas mehr von der Flüssigkeit in den Mund und ließ sie die erst schlucken, bevor sie nachgoss.
    Es dauerte einige Minuten, doch dann war der Becher leer. Mrs. Coulter bettete ihre Tochter wieder hin. Sobald Lyras Kopf auf dem Boden lag, kroch Pantalaimon an seinen Platz an ihrem Hals zurück. Sein rotgoldenes Fell war genauso feucht wie ihre Haare. Beide schliefen wieder tief und fest.
    Der goldene Affe sprang leichtfüßig zum Eingang der Höhle zurück, hockte sich hin und starrte wieder aufmerksam zum Weg hinunter. Mrs. Coulter tauchte einen Waschlappen in eine Schale mit kaltem Wasser und betupfte damit Lyras Gesicht. Dann öffnete sie den Schlafsack und wusch ihr Hals, Arme und Schultern. Zuletzt nahm die Frau einen Kamm, zog ihn vorsichtig durch Lyras verfilzte Haare, kämmte sie aus der Stirn und machte ihr einen ordentlichen Scheitel.
    Sie ließ den Schlafsack offen, damit das Mädchen abkühlen konnte, und faltete das Bündel auseinander, das Ama gebracht hatte. Es enthielt einige Fladenbrote, einen Ballen zusammengepressten Tees und etwas in ein großes Blatt eingewickelten klebrigen Reis. Höchste Zeit, Feuer zu machen. In den Bergen wurde es nachts bitterkalt. Methodisch schabte die Frau Zunder über einige dürre Zweige, schichtete sie aufeinander und brannte ein Streichholz an. Auch daran musste sie denken: Die Streichhölzer gingen zu Ende und genauso das Naphtha für den Kocher. Sie durfte das Feuer jetzt Tag und Nacht nicht ausgehen lassen.
    Ihr Dæmon war unzufrieden. Ihm gefiel nicht, was sie tat, doch als er ihr seine Sorge ausdrücken wollte, schob sie ihn nur weg. Der Affe kehrte ihr den Rücken zu und schnippte die Schuppen seines Pinienzapfens wütend in die Dunkelheit. Mrs. Coulter achtete nicht auf ihn. Geschickt hielt sie das Feuer in Gang und setzte dann einen Topf auf, um Wasser für den Tee zu erhitzen.
    Trotzdem machten seine Zweifel ihr zu schaffen, wie es auch gar nicht anders sein konnte, weil sie in sich natürlich dieselben Zweifel verspürte. Mrs. Coulter krümelte etwas von dem dunkelgrauen Teeballen ins Wasser und überlegte, was um Himmels willen sie da eigentlich tat. War sie denn wahnsinnig geworden und, vor allem, was würde passie ren, wenn die Kirche davon erfuhr. Der goldene
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