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Das Bernstein-Teleskop

Das Bernstein-Teleskop

Titel: Das Bernstein-Teleskop
Autoren: Philip Pullman
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näher, damit ich euch erkennen kann«, sagte er. 
    Sie kamen näher, schienen aber nur noch mehr zu verschwimmen. 
    »Sehe ich euch am Tag besser?«
    »Nein, schlechter. Wir sind nur Engel eines niedrigen Ranges.« 
    »Na gut, wenn ich euch nicht sehe, sieht euch auch kein anderer und ihr bleibt unbemerkt. Jetzt geht und sucht Lyra. Sie kann nicht weit sein. Da war eine Frau - sie wird bei ihr sein - die Frau hat sie mitgenommen. Macht euch auf die Suche und sagt mir, was ihr entdeckt habt.«
    Die Engel stiegen in die stürmische Nacht auf und verschwanden. Will spürte, wie ihn eine bleierne Müdigkeit überkam. Er hatte schon vor dem Kampf gegen seinen Vater kaum noch Kraft gehabt, jetzt war er völlig am Ende. Er wollte nur noch die Augen schließen, die unendlich schwer und vom Weinen wund waren.
    Will zog den Mantel über den Kopf und drückte den Rucksack an die Brust. Im nächsten Moment war er eingeschlafen.
     
     
    »Nirgends«, sagte eine Stimme.
    Will hörte sie in der Tiefe seines Schlafes und versuchte aufzuwachen. Endlich, und es dauerte eine ganze Minute, so tief hatte er geschlafen, konnte er die Augen öffnen. Es war heller Morgen.
    »Wo seid ihr?«, fragte er.
    »Neben dir«, sagte der Engel. »Auf dieser Seite.«
    Die Sonne war eben erst aufgegangen, und die mit Flechten und Moos überwachsenen Felsen leuchteten munter im Morgenlicht, aber nirgendwo konnte er jemanden ausmachen.
    »Ich sagte ja, dass wir bei Tag schlechter zu erkennen sind«, fuhr die Stimme fort. »Am besten siehst du uns im Zwielicht, in der Morgen oder Abenddämmerung, am zweitbesten im Dunkeln und am schlechtesten in der Sonne. Mein Gefährte und ich haben weiter unten am Berg gesucht und weder Frau noch Kind gefunden. Doch gibt es dort einen See mit blauem Wasser, an dem die Frau offenbar gelagert hat. Dort liegen ein toter Mann und eine von einem Gespenst gefressene Hexe.«
    »Ein toter Mann? Wie sieht er aus?«
    »Über sechzig, beleibt, mit glatter Haut und silbergrauen Haaren und teuer gekleidet. Um ihn herum roch man Spuren eines schweren Parfüms.«
    »Das ist Sir Charles«, sagte Will, »bestimmt. Mrs. Coulter muss ihn umgebracht haben. Endlich eine gute Nachricht.«
    »Sie hat Spuren hinterlassen. Mein Gefährte folgt ihnen. Er kommt zurück, sobald er herausgefunden hat, wohin sie gegangen ist. Ich bleibe bei dir.«
    Will stand auf und sah sich um. Der Sturm hatte die Luft gereinigt und der Morgen zeigte sich frisch und klar. Das machte allerdings den Anblick, der sich ihm bot, nur noch trauriger. Denn ganz in der Nähe lagen die Leichen der Hexen, die ihn und Lyra zum Treffen mit seinem Vater begleitet hatten. Eine Aaskrähe hackte bereits mit ihrem grausamen Schnabel auf ein Gesicht ein, und am Himmel sah Will einen größeren Vogel kreisen, als suche er noch, welches die fetteste Beute sei. Will sah sich die Leichen an, aber Serafina Pekkala, die Königin eines Hexenclans und Lyras besondere Freundin, war nicht darunter. Dann erinnerte er sich. Hatte sie nicht kurz vor Einbruch der Nacht aufbrechen müssen, weil jemand sie gerufen hatte?
    Also lebte sie vielleicht noch. Der Gedanke munterte ihn auf und er hielt nach einem Anzeichen von ihr am Horizont Ausschau. Doch in welche Richtung er auch spähte, er erblickte nichts als blauen Himmel und schroffe Felsen.
    »Wo bist du?«, fragte er den Engel.
    »Neben dir«, antwortete die Stimme. »Wie immer.«
    Will drehte den Kopf nach links, von wo die Stimme gekommen war, entdeckte aber nichts.
    »Es kann dich also niemand sehen. Können andere dich wie ich hören?«
    »Nicht wenn ich flüstere«, erwiderte der Engel bissig.
    »Wie heißt du? Habt ihr überhaupt Namen?«
    »Ja. Ich heiße Balthamos, mein Gefährte Baruch.«
    Will überlegte, was er tun sollte. Wenn man sich für eine Möglichkeit von vielen entschied, löschte man damit alle anderen wie Kerzen aus, als ob es sie nie gegeben hätte. Noch standen ihm viele Möglichkeiten offen, aber sie alle offen zu halten, hätte bedeutet, nichts zu tun. Er musste sich also entscheiden.
    »Wir gehen den Berg wieder hinunter«, verkündete Will. »Zu diesem See. Vielleicht finde ich dort etwas, das ich gebrauchen kann. Außerdem bekomme ich allmählich Durst. Ich laufe jetzt einfach los und du korrigierst mich, wenn ich in die falsche Richtung gehe.«
    Er war bereits einige Minuten den steinigen, weglosen Hang hinuntergestapft, als ihm auffiel, dass seine Hand gar nicht mehr wehtat. Besser noch, er hatte seit dem
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