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Das Auge des Leoparden

Das Auge des Leoparden

Titel: Das Auge des Leoparden
Autoren: Henning Mankell
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tiefen Schnee, fällt einen Baum nach dem anderen, reißt die Rinde von den Stämmen und öffnet so die Landschaft allmählich für die endlosen Horizonte. Der gestrandete Seemann hat die Aufgabe übernommen, den Weg zu einer weit entfernten Küstenlinie zu bahnen.
    Aber Hans Olofsons Leben besteht nicht nur aus schwermütiger Mutterlosigkeit und dem periodischen Alkoholismus des Vaters. Gemeinsam studieren Vater und Sohn die detaillierten Welt- und Seekarten des Vaters, gehen in Häfen an Land, die er besucht hat, und erforschen in ihrer Phantasie all jene Orte, die ihrer Ankunft noch harren. Die Seekarten werden von der Wand genommen, werden ausgerollt und mit Aschenbechern und abgestoßenen Tassen beschwert. Dann können die Abende lang werden, denn Erik Olofson ist ein guter Erzähler. Im Alter von zwölf Jahren verfügt Hans Olofson über ein gediegenes Wissen über solch entlegene Orte wie Pamplemousse und Bogamaio und hat an die letzten Rätsel der Seefahrerei gerührt, mythische Schiffe, die in ihrem eigenen Geheimnis verschwanden, Piratenkapitäne und begnadete Seemänner. Die geheimnisvolle Welt mit ihrem schwer durchschaubaren Regelwerk, in der Handelshäuser existieren und Frachtführer leben, nach denen sie sich richten müssen, hat er in seinem Gedächtnis gespeichert, ohne sie wirklich zu verstehen. Dennoch hat er das Gefühl, an eine große und entscheidene Quelle der Weisheit gerührt zu haben. Er kennt den Rußgeruch in Bristol, die unbeschreibliche Verschmutzung des Hudson, den Monsun auf dem Indischen Ozean, die bedrohliche Schönheit der Eisberge und das Rasseln der Palmenblätter.
    »Hier säuseln die Wälder«, erklärt Erik Olofson. »Aber in den Tropen rasseln die Blätter der Palmen.«
    Er versucht sich den Unterschied vorzustellen, schlägt mit einer Gabel an ein Glas, aber die Palmen weigern sich beharrlich, zu klirren oder zu rasseln. Noch säuseln die Palmen in seinen Ohren genau wie die Fichten, die ihn allseits umgeben.
    Aber wenn er seiner Lehrerin erklärt, daß Palmen rasseln und daß es Seerosen gibt, die so groß sind wie der Anstoßkreis des Eishockeyfeldes vor der Volksschule, wird er sofort ausgelacht und als Lügner abgestempelt. Rektor Gottfried stürmt mit hochrotem Kopf aus seinem stickigen Büro, in dem er seinen Überdruß am Unterrichten durch regelmäßigen Wermutkonsum betäubt, zieht Hans Olofson an den Haaren und führt ihm vor Augen, was jemandem widerfährt, der vom Pfad der Wahrheit abgekommen ist.
    Nachher, allein auf dem Schulhof, umgeben vom Exekutionskommando des Spotts, beschließt er, sein exotisches Wissen nie wieder nach außen zu kehren. In dieser Hölle aus schmutzigem Schnee und Holzhäusern hat man keinen Sinn für die Wahrheiten, die auf den Meeren zu suchen sind.
    Mit verquollenem Gesicht kommt er nach Hause, setzt Kartoffeln auf und wartet auf seinen Vater. Ist das der Moment, in dem er beschließt, daß sein Leben eine unendliche Reise werden soll? Beim Kartoffelkochen fährt der heilige Geist des Reisens in ihn, über dem Herd hängen die feuchten Wollsocken des Vaters.
    Segel, denkt er. Geflickte, ausgebesserte Segel …
    Als er abends im Bett liegt, bittet er seinen Vater, noch einmal von den Seerosen auf Mauritius zu erzählen, und schläft mit der Gewißheit ein, daß Rektor Gottfried in der Hölle schmoren wird, in der man endet, wenn man den Worten eines Seemanns keinen Glauben schenkt.
    Später trinkt Erik Olofson Kaffee, tief im durchgesessenen Sessel neben dem Radio versunken. Leise läßt er die Ätherwellen rauschen, als wollte er im Grunde gar nicht hinhören, als würde ihr Rauschen ihm schon genügen. Der Atem des Meeres, weit, weit entfernt. Die Fotografien brennen im Logbuch. Er muß seinen Sohn alleine lotsen. Und so sehr er auch rodet, scheinen die Wälder doch immer nur dichter zu werden. Manchmal denkt er, daß die wirklich große Niederlage seines Lebens darin besteht, trotz allem auszuharren.
    Aber wie lange noch? Wann platzt er wie ein Glas, das allzu lange erhitzt worden ist?
    Die Ätherwellen rauschen, und er denkt wieder einmal darüber nach, warum sie ihn und ihren Sohn verlassen hat. Warum hat sie sich wie ein Mann verhalten, denkt er. Väter verlassen, verschwinden. Mütter nicht. Schon gar nicht, indem sie einem sorgsam ausgearbeiteten und durchdachten Fluchtplan folgen. Wie weit kann man einen anderen Menschen verstehen? Insbesondere einen Menschen, der in unmittelbarer Nähe gelebt hat, in den innersten Zirkeln des
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