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Das Auge des Leoparden

Das Auge des Leoparden

Titel: Das Auge des Leoparden
Autoren: Henning Mankell
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Einsamkeit im Wipfel einer schief gewachsenen Kiefer heraus und flatterte dann über die Hügelkuppe davon, auf der sich die Straße nach Westen schlängelte. Das Moos unter seinen Füßen federte, er war aus dem Spiel herausgetreten, und auf dem Weg zum Fluß veränderte sich alles. Solange er seine Identität nicht untersucht hatte, nur
einer
unter vielen war, trug er eine zeitlose Unsterblichkeit in sich, das Privileg des Kindes, tiefster Sinn der Kindlichkeit. In dem Augenblick aber, als sich die unbekannte Frage, warum er gerade der war, der er war, in seinen Kopf einschlich, wurde er zu einer ganz bestimmten Person – und damit sterblich. Nun hatte er sich selbst bestimmt, er war der Mensch, der er war, würde nie ein anderer werden, und er erkannte, daß es keinen Sinn hätte, sich gegen diese Tatsache zu wehren. Von nun an hatte er ein Leben vor sich, ein einziges, in dem er er selbst sein würde.
    Am Fluß setzte er sich auf einen großen Stein und blickte auf das braune Wasser hinab, das träge Richtung Meer trieb. Ein Ruderboot ruckelte an einer Kette, und ihm wurde klar, wie einfach das Verschwinden sein könnte. Jedenfalls aus dem Städtchen, niemals jedoch aus sich selbst.
    Lange blieb er so am Fluß sitzen und wurde erwachsen. Nun hatte alles Grenzen bekommen. Zwar würde er auch in Zukunft spielen, allerdings nie mehr so wie früher. Das Spiel war nun ein Spiel geworden, nicht mehr.
    Er klettert über die Ufersteine, bis er das Haus erblickt, in dem er wohnt, setzt sich auf einen entwurzelten Baumstumpf, der nach Regen und Erde riecht, und schaut dem aufsteigenden Rauch hinterher.
    Wem soll er von seiner großen Entdeckung erzählen? Wer kann sein Vertrauter werden?
    Wieder schaut er zum Haus hinüber. Soll er an die morsche Tür im Erdgeschoß rechts klopfen, um mit Eier-Karlsson zu sprechen? Darum bitten, in die Küche eintreten zu dürfen, in der es stets nach ranzigem Fett, nasser Wolle und Katzenpisse riecht? Aber mit Eier-Karlsson kann er nicht reden, weil der mit niemandem spricht. Er schließt seine Tür, als wollte er sich in eine eiserne Eierschale hüllen. Hans Olofson weiß von ihm nur, daß er böse und dickköpfig ist. Er macht mit dem Fahrrad die Runde bei allen Bauernhöfen der näheren Umgebung und kauft Eier an, mit denen er anschließend diverse Kolonialwarenläden beliefert. Seinen Geschäften geht er immer frühmorgens nach, und den Rest des Tages verbringt er hinter der verschlossenen Tür.
    Eier-Karlssons Schweigen prägt das ganze Haus. Es hängt wie Nebel über den verwilderten Johannisbeersträuchern und dem gemeinsamen Kartoffelacker, der Eingangstreppe und der Treppe zur oberen Etage, die Hans Olofson mit seinem Vater bewohnt.
    Ebenso undenkbar erscheint es ihm, sich der alten Westlund anzuvertrauen, die gegenüber von Eier-Karlsson wohnt. Sie würde ihn in ihre Stickereien und pietistischen Botschaften einlullen, ihm nicht zuhören, sondern ihm ihre frommen Worte entgegenschleudern.
    Bleibt nur noch die kleine Dachmansarde, die er sich mit seinem Vater teilt. Bleibt nur noch, nach Hause zu gehen und mit seinem Vater zu sprechen, Erik Olofson. Geboren in Åmsele, weit weg von diesem kalten Loch im tiefsten Innern der nordschwedischen Melancholie, das gottverlassen im Herzen Härjedalens liegt. Hans Olofson weiß, wie sehr es den Vater schmerzt, so weit weg vom Meer leben und sich mit einem träge dahinziehenden Fluß begnügen zu müssen. Seine kindliche Intuition sagt ihm, daß ein Mann, der einmal Seemann war, sich nicht wohlfühlen kann, wo dichter, grau verfrorener Wald den offenen Horizont versperrt. An der Küchenwand die Seekarte von den Gewässern um Mauritius und Réunion: man erkennt am verblichenen Kartenrand gerade noch die Ostküste Madagaskars, und die Meerestiefe ist an manchen Stellen mit unvorstellbaren viertausend Metern angegeben; diese Karte ist eine ständige Erinnerung an einen Seemann, der am völlig falschen Ort gelandet ist und dem das Kunststück gelungen ist, ausgerechnet dort zu stranden, wo es nicht einmal ein Meer gibt.
    Auf dem Regal über dem Herd steht in einer Glasvitrine das Modell eines Vollschiffs. Vor Jahrzehnten aus einer dunklen indischen Boutique in Mombasa entführt, erworben für ein einziges englisches Pfund. In ihrem mit Kälte geschlagenen Teil der Welt, in dem Eiskristalle leben und keine Jakarandabäume, besteht der Wandschmuck für gewöhnlich aus Elchschädeln und Fuchsschwänzen. Hier muß es nach feuchten Gummistiefeln
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