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Das Amerikanische Hospital

Titel: Das Amerikanische Hospital
Autoren: Michael Kleeberg
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halbe Sekunde später und sechs Meter entfernt, mit ohrenbetäubendem Krachen explodierte. Dann riss er Hélène, die die Hände vor die Ohren geschlagen und die Augen geschlossen hatte, mit sich, rammte mit der Schulter brutal zwei Männer aus dem Weg und zerrte Hélène im Laufschritt hinter sich her in eine schmale Gasse, die er einen Moment zuvor entdeckt hatte. Nach zwanzig Metern kletterte er auf den Kofferraum eines Autos, das dort abgestellt war und die Passage versperrte, zog Hélène hinauf, stieg rücksichtslos übers Dach und über die Motorhaube wieder ab, half ihr herunter, und nach weiteren fünfzig Metern entlang einer Brandmauer trafen sie auf eine Quergasse und erreichten, während Lärm, Geschrei, Geknalle und Gepfeife hinter der Ecke verhallten, eine ruhige Seitenstraße, wo sie stehen blieben.
    So viel dazu, dass es hier für unsereinen ungefährlich sei, sagte Cote missbilligend.
    Hélène keuchte und lehnte sich atemlos an eine Hauswand.
    Woher wussten Sie, dass das keine Sackgasse war?
    Stand kein Schild davor.
    Wie haben Sie das in dem Trubel so schnell gesehen?
    Übung.
    Hélène orientierte sich. Die Seitenstraße war die Rue La Boétie. Direkt an der Ecke befand sich ein Café, Le
Rallye, durch dessen beschlagene Scheiben man nichts sehen konnte.
    Kommen Sie hier rein, sagte Hélène. Wir haben uns eine Pause verdient. Zum Trocknen und Aufwärmen.
    Das Café, gedrängt voll, dampfig, vibrierend von Stimmen wie eine Voliere, war offenbar in stilistischer Nachfolge des Drugstores von Saint-Germain in den sechziger Jahren eingerichtet und seither nicht verändert worden. Die niedrigen Decken waren mit silbrig spiegelnden Lamellen getäfelt, große orange-ockerfarbene Plastikkuben dienten als Raumteiler, an den Wänden entlang hinter den rostroten Bakelittischen liefen senfgelbe kunstledergepolsterte Bänke. Das Licht war so dämmrig, als läge der Staub und die Fettschicht der Jahrzehnte auf den Neonröhren und Appliken. Immerhin gab es das klassische Café- und Bistroangebot samt dem Drahtgestell, in dem die harten Eier standen, und den Viandox-Flaschen auf dem Tresen.
    Sie fanden zwei freie Plätze am Tisch eines Paares, das bereitwillig zusammenrückte. Ein Mann mit kurzgestutztem weißem Bart, der eine Brille trug und in einen Tweedanzug gekleidet war, dessen Schultern dunkel vor Nässe waren, und eine vielleicht fünfzigjährige gepflegte Frau in einem blauen Hosenanzug. Sie waren ins Gespräch vertieft. Hélène bestellte zunächst zwei Grogs. Sie zogen die nassen Mäntel aus und hängten sie über die Stuhllehnen. Das Café dampfte vor Feuchtigkeit und Hitze wie ein türkisches Bad.
    Es ist also nichts geworden mit der Schwangerschaft?, sagte Cote, das Gespräch dort weiterführend, wo sie es vor einer Stunde unterbrochen hatten. Und fügte dann
nach kurzem Zögern hinzu: Und es wird auch nichts mehr?
    Nein, sagte Hélène. Es wird auch nichts mehr. Und es macht mich kaputt, seelisch und körperlich. Deshalb habe ich mich entschlossen, die Reißleine zu ziehen. Ich will nicht noch tiefer in diese Spirale eines vertanen Lebens geraten.
    Sie sah ihn an. Ich habe keinen Grund dazu.
    Und nun?, fragte der Amerikaner.
    Werden wir uns anders orientieren müssen. Werden wir uns einen anderen Lebenszweck und Lebensinhalt suchen müssen.
    Sie trank ihren Grog aus und bestellte beiden ein Bier.
    Wissen Sie, es war ja, bevor diese IVF zur Obsession geworden ist, ein schönes Leben. Wir können reisen, Bücher lesen, Musik hören. Wir könnten wieder häufiger ins Konzert oder ins Kino. Früher waren wir dauernd im Kino. Wir könnten aufs Land ziehen. Ich hätte gern einen großen Garten. Wir könnten uns engagieren. Es gibt so viel, wofür es sich lohnt zu kämpfen. Sie deutete nach draußen. Der Erhalt des öffentlichen Dienstes. Die kulturelle Ausnahmestellung Frankreichs. Sie musste lachen. Unser Rohmilchkäse … Dann winkte sie ab. Entscheidend ist, diesen Gedanken aus dem Kopf zu kriegen, man sei verflucht oder verkrüppelt. Ich meine, ich bin gesund. Ich kann mir endlich wieder Arbeit suchen. Richtige Arbeit. Ich bin noch nicht alt. Wenn man diese eine Sache vergisst, dann steht uns alles offen, alles.
    Der Amerikaner nickte. Er spürte, dass er fröstelte. Eine Gänsehaut überlief ihn, es war, glaubte er sich zu
erinnern, ein ähnliches Gefühl wie einst als Kind, als er eine Eisenbahnreise ohne Begleitung antreten musste, und der Zug hatte Verspätung, und er saß ganz alleine vier
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