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Das 2. Gesicht

Das 2. Gesicht

Titel: Das 2. Gesicht
Autoren: Nika Lubitsch
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meine Gedanken zu Materie geworden? Er kam auf mich zu, nahm meine Hand, zog mich vom Stuhl hoch und sagte: „Let’s go.“
    So, wie beim ersten Mal, damals, am ersten Abend bei seiner ersten Lesung. Ich sagte gar nichts, stand auf, folgte ihm, vorbei an zwei Kolleginnen, die im Gang stehen blieben und uns mit offenem Mund hinterher starrten. Wir gingen hinaus in den Flur, stiegen in den Fahrstuhl, und dann spürte ich, dass er doch keine Fata Morgana war. Denn dass Fata Morganas küssen können, wäre mir neu. Er hielt mich fest umschlungen, auch als der Fahrstuhl unten die Türen öffnete und ausgerechnet der Verlagsleiter versuchte einzusteigen. George zog mich aus dem Fahrstuhl, vorbei an meinem Chef, der irgendetwas sagte.
    „Shut up“, befahl ihm George daraufhin nur und zog mich aus dem Haus. Es war wieder so wie am ersten Abend. Keine Frage nach dem Wohin oder dem Und jetzt. Vor dem Verlag parkte ein Taxi und wir stiegen ein.
    „Sag ihm deine Adresse“, verlangte George.
    Ich sagte sie ihm. „Aber …“
    George verschloss meinen Mund mit einem Kuss. Ich versank in seinen Armen, in ihm, und der Rest von mir verflüssigte sich.
    Als wir bei mir zu Hause gelandet waren, schloss er die Tür hinter mir, küsste mich und fing an, mich auszuziehen. Ich zog ihn in mein Schlafzimmer, wir fielen auf mein Bett und ich konnte nur eins denken: Jetzt ist alles gut. George war der zärtlichste Liebhaber, den man sich vorstellen konnte. Wie hatte ich mich nach diesem Mann gesehnt, nein, verzehrt ist wohl das richtige Wort.
    „Ich liebe dich“, flüsterte er leise, legte sich sanft zur Seite und schaute mich an.
    „Ich liebe dich auch“, sagte ich.
    Er lächelte wie ein kleiner Junge, der gerade eine große Portion Wackelpudding aus dem Eisschrank gemopst hatte.
    „Dann ist ja alles gut, ich habe es vor Sehnsucht nach dir nicht mehr ausgehalten“, sagte er. „Ist dein Pass noch aktuell?“, fragte er gleich darauf.
    Was für eine Frage, wenn man gerade mit einer Frau geschlafen hat. Ich bejahte sie.
    „Gut“, sagte er, „dann beantragen wir jetzt erst mal ein Visum. Es dauert vierundzwanzig Stunden, bis wir fliegen können.“
    „Fliegen? Wohin?“
    „Nach Hause“, sagte er. „In die USA.“
    „Aber ich kann hier nicht weg, mein Job, ich habe keinen Urlaub“, erwiderte ich verwirrt. Er gab mir einen Klaps.
    „Los, aufstehen, Visum beantragen, dein Verlag kann dich mal.“
    „Aber ich werde meinen Job verlieren“, sagte ich.
    „Na und, wozu brauchst du einen Job, wenn du mit mir verheiratet bist“, sagte er. Ich sank zurück in mein Kopfkissen.
    „Verheiratet? War das ein Heiratsantrag?“, fragte ich ihn.
    „Selbstverständlich war das ein Heiratsantrag, meinst du, ich fliege extra nach Berlin, weil ich ein Schäferstündchen mit Fräulein Schlegel brauche?“ George grinste mich an. „Oh, halt, sorry, ich habe etwas vergessen“, sagte er und wühlte auf der Erde in seinen Jeans. „Hier.“ Er reichte mir einen weißgoldenen Brillantring. „Soll ich auf die Knie fallen oder reicht das?“, fragte er.
    „Wie romantisch“, sagte ich sarkastisch und griff nach dem Ring. „Wow“, entfuhr es mir dann aber doch. Das Ding hatte den Durchmesser einer Murmel.
    „Du willst mich wirklich heiraten? Ich meine, jetzt gleich?“, fragte ich. „Du kennst mich doch gar nicht!“
    „Ich habe noch nie in meinem Leben jemanden so sehr heiraten wollen wie dich. Und doch, ich kenne dich, Julia Schlegel, besser als du glaubst. Ich dachte, wir könnten nach Las Vegas fliegen.“
    „Las Vegas?“ Ich schloss die Augen. Schon immer hatte ich davon geträumt, in Las Vegas zu heiraten. Vor allem, weil dort alle ohne Familie heiraten. Es hätte mir das Herz gebrochen, in Berlin ein großes Hochzeitsfest zu feiern, ohne Mutter und Vater. Las Vegas war also sowieso erste Wahl.
    „Also, ESTA oder basta?“, fragte George, der sich offensichtlich erkundigt hatte, wie man als Deutsche nach Las Vegas einreisen durfte. Dafür benötigte man ein ESTA-Visum.
    „Die Flüge und das Hotel hat mein Management schon gebucht“, sagte George. Er lag mit dem Rücken auf meinem Bett und starrte die Decke an. Ich stellte mir vor, wie J.R. mit verkniffenem Gesicht unsere Hochzeitssuite in Vegas gebucht haben musste. Eins war sicher, Jay liebte mich in etwa so sehr wie einen Bandwurm. Ich sprang aus dem Bad und holte meinen Laptop und fand nach längerem Wühlen in meiner Schreibtisch-Schublade auch meinen Pass. Gott sei Dank, er
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