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Das 2. Gesicht

Das 2. Gesicht

Titel: Das 2. Gesicht
Autoren: Nika Lubitsch
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George. Wir sind noch durch acht weitere Städte gefahren, wir haben mittags und abends zusammen gegessen, haben Drinks in den Hotelbars genommen, aber ich habe immer darauf geachtet, dass J.R. dabei war. In Georges Gegenwart allein fühlte ich mich so unsicher wie eine vierzehnjährige Schülerin bei ihrem allerersten Date.
    Dabei hatten wir festgestellt, dass wir die gleichen Dinge mochten: viel Kaffee am Morgen, noch mehr Eier zum Frühstück und die alten amerikanischen und englischen Kriminalromane aus den Vierzigern. Wir lachten über die gleichen Dinge, wir ärgerten uns gleichzeitig über schlechten Service, wir hatten die gleiche Einschätzung der Menschen und Buchhandlungen, die wir auf unserer Tour kennenlernten. Und wir mochten die gleiche Musik, wie wir mit dem Autoradio zwischen München und Hamburg feststellten.
    Unsere Übereinstimmungen waren so augenscheinlich, dass sie J.R. ärgerten. Ich hatte sehr schnell gemerkt, dass zwischen der Erziehung von J.R. und George Welten lagen. J.R. kam aus dem Süden der USA und ich hätte wetten können, dass er jemand war, der sich hochgearbeitet hatte. Denn seine Tischmanieren waren so, dass man besser wegschaute, wenn einem nicht der Appetit vergehen sollte. Aber auch sonst schien J.R. nicht sehr gebildet zu sein. Dafür war er offensichtlich mit einem kaufmännischen Geschick und praktischem Problemlösungsvermögen gesegnet, sonst wäre er nicht Georges Manager geworden. Und er besaß eine bemerkenswert große Portion Chuzpe.
    Georges Fähigkeiten lagen eher auf intellektuellem Gebiet. Er saugte das Verhalten anderer Menschen auf, ein besseres Wort fiel mir dafür nicht ein. Ich sah, wie er Menschen beobachtete, sich in Gedanken Notizen machte. Wenn er etwas über andere sagte, dann war ich jedes Mal erstaunt, wie genau er hingeschaut hatte. George schien über extrem viel Empathie zu verfügen. Natürlich musste er Empathie haben, sonst könnte er keine Romane schreiben.
    Trotzdem gab es zwischen den beiden eine seltsame Art von Harmonie, sie funktionierten trotz aller Unterschiedlichkeit als Einheit.
    Nur einmal noch, im Hilton in Düsseldorf, es war unser letzter Abend, waren wir allein. J.R. hatte sich nach dem Essen im Hotelrestaurant verabschiedet und ich bemühte mich, eilig in mein Zimmer zu kommen.
    George hielt mich fest und sagte: „Nein, wir beide trinken jetzt zusammen noch ein Glas Wein.“
    Nichts wollte ich lieber als ein Glas mit ihm zu trinken, von mir aus die ganze Nacht, den nächsten Tag bis zum Delirium tremens. Und an diesem Abend gestattete ich mir sogar, ein klitzekleines bisschen mit ihm zu flirten. Die Atmosphäre zwischen uns war aufgeladen, hätte jemand ein Streichholz zwischen uns gehalten, hätte es eine Stichflamme gegeben. Oder spürte nur ich das, das kleine, dumme Mädchen aus Berlin-Schöneberg?
    Er brachte mich zu meinem Zimmer, nahm mir meine Schlüsselkarte aus der Hand und öffnete die Tür. Ich blieb im Türrahmen stehen, George stand ganz dicht vor mir. Es war wie damals – war das wirklich erst zehn Tage her? – vor dem Hotel Adlon. Seine physische Präsenz haute mich einfach um. Ich schaute ihm in die Augen und sah – wieder – rot.
    „Gute Nacht, George“, beeilte ich mich zu sagen und verschwand eilig hinter der Tür. Ich lehnte mich von innen gegen das Holz und spürte, dass er auf der anderen Seite auch noch die Hand auf den Türrahmen hielt. Mein Atem ging so heftig, als ob er mich eben geliebt hätte, mein Herz raste.
    Als ich mich endlich ausgezogen hatte, nicht, ohne mir immer wieder zu sagen, dass ich die blödeste aller Kühe jenseits von Holstein war, klingelte das Telefon.
    „Ja“, meldete ich mich ein wenig atemlos. Niemand war dran. Doch. Jemand atmete. Ich wusste, dass es George war.
    „Gute Nacht, Julia“, sagte er nach einer Weile und legte auf.

Berlin
    Als ich George und J.R. in Düsseldorf ins Flugzeug gesetzt hatte, hörte ich auf zu leben. So jedenfalls erklärte ich meiner Freundin Sandra mein Gefühl. Es war, als ob jemand das Licht ausgeknipst hätte, als ob sich dicke Wolken vor die Sonne geschoben hätten, als ob ich aufgehört hätte zu existieren.
    Ich funktionierte noch, natürlich, aber ich nahm alles wahr wie durch eine Schweißerbrille. Im Verlag rechnete ich die Lesereise ab, machte die Nachbereitung, freute mich über die vielen schönen Kritiken und Berichte.
    Wann immer ich den Namen George Osterman las, überschwemmte mich eine warme Welle und riss für einen Moment
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