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Das 2. Gesicht

Das 2. Gesicht

Titel: Das 2. Gesicht
Autoren: Nika Lubitsch
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besser so. Nein, die Hündin hatte ihm keine Befriedigung verschafft, er hatte nicht mal einen Ständer gekriegt. Aber er hatte an ihr geübt, seine Technik verfeinert. Die Hündin war angewandter Biologieunterricht gewesen. Mehr nicht. Er hatte ihr einen Namen gegeben, hatte sie zärtlich Nellie genannt. Vorher, da war Nellie eine streunende Hundedame gewesen, namenlos, ohne Besitzer, verlaust und heruntergekommen. Danach hatte die Hündin einen Namen und ein Grab. Direkt hinter dem Strand hatte er sie begraben. Es war ein Gnadenakt, so wie beim allerersten Mal. Er hatte sogar eine Blume auf das Grab gelegt.
    Nachdem er Nellies Blut von seinem Körper abgewaschen, abgerieben, abgeätzt hatte, hatte er stundenlang in der Ecke gesessen, die Arme um seine Knie geschlungen und sich vor-und zurückgewiegt. Die Tränen waren ihm heruntergelaufen, er hatte solches Heimweh, er sehnte sich so sehr nach seiner verdammten Mutter, die ihn verlassen hatte, die sich nie um ihn gekümmert hatte, diese Schlampe, die alles gewesen war, was er im Leben gehabt hatte.
    Es war nicht so einfach, wie er gedacht hatte. Er wusste, dass er weitermachen musste, dass er die Welt reinigen musste. Es war seine Aufgabe, seine Bestimmung, und mit jedem Tag, den er älter wurde, wurde es ihm klarer: Er war berufen. Es gab keinen Ausweg, er musste die Welt befreien von dem schlechten Blut, das sich eiternd immer weiter ausbreitete.
    Als Nächstes kam die Alte. Sie hatte nur noch wenige Zähne in ihrem stinkenden Maul. Es war ihr fauler Atem, der ihm sagte, dass sie diejenige war, deren Zeit gekommen war. Es war so einfach gewesen, niemand vermisste sie, niemand fragte nach ihr, sie war eine Verlassene, Verzweifelte, so wie er. Ihre dünnen Haare hatten an den Enden eine Farbe wie verfaulte Mohrrüben. Sie hingen ihr in langen, fettigen Strähnen aus dem winzigen Zopf, Zeugnis des verzweifelten Versuchs, so etwas wie Ordnung in ihren wirren Kopf zu bekommen. Sie hatte ihn angelächelt, dieses zahnlose Lachen einer alten Hure, das aussah wie die Fratze des Teufels und sich anhörte wie das Gackern eines heiseren Huhnes. Er hatte sie einsteigen lassen in sein Auto, sie waren allein, hinter der riesigen Lagerhalle in dem verlassenen Industriegelände, keine Kameras, keine Passanten, wer wollte schon alte Huren, es war so einfach gewesen. Er hatte sie mit nach Hause genommen, in dieses Haus, in dem er es das erste Mal getan hatte, mitten in der Küche, die er reinigen konnte, mit Lysol, mit WC-Reiniger, mit Wäschebleiche.
    Aber diesmal hatte er vorgesorgt. Er hatte seine alte Videokamera über dem Küchenschrank montiert, hatte sie mit Gaffa-Band fest an der Wasserleitung befestigt, die frei an der Wand hoch
führte, so dass er jede einzelne Minute auch später noch auskosten konnte und nicht mehr nur auf seine Erinnerung angewiesen war. Er hatte alles vorbereitet gehabt. Die Hure war ein Zufall, es war der einzige Zufall, den er damals zugelassen hatte. Auf dem Küchentisch hatte er ordentlich seine Utensilien aufgereiht. Allein bei der Auswahl seiner Hilfsmittel, mit denen er den Vorgang des Ausblutens ein wenig verlangsamen wollte, war er sehr sorgfältig vorgegangen. Und kreativ, wie er sich selbst bescheinigen musste.

Weimar
    Nein, ich habe nicht mit ihm geflirtet. Keine einzige Sekunde. Obwohl es mir schwerfiel. Nach Leipzig fuhren wir nach Weimar, wo wir im Hotel „Elephant“ übernachteten. Osterman war begeistert. So hatte er sich eine deutsche Stadt vorgestellt.
    „Goethe und Schiller“, sagte er.
    „Hitler“, antwortete ich.
    „Hitler?“, fragte J.R. interessiert.
    „Ja, der hat dieses Hotel häufig besucht und es sozusagen als Parteizentrale genutzt“, erklärte ich ihm. „Von dem Balkon konnte man gut die Aufmärsche auf dem Marktplatz beobachten und Ansprachen an das Volk halten.“
    Irrte ich mich, oder sah ich ein Glitzern in Jays Augen?
    Es war unser dritter Tag und vor der Lesung schlenderte ich mit George Osterman durch die Einkaufszone von Weimar. J.R. hatte es vorgezogen, im Hotel zu bleiben, deshalb war ich mit George wieder mal allein. George blieb vor jeder Boutique interessiert stehen. Warum tat er so, als ob er sich für Frauenkleider interessieren würde?
    „Das würde dir gut stehen“, meinte er und zeigte auf einen klassischen Hosenanzug in einem warmen Karamellton mit einer schwarz-karamell gestreiften Tunika.
    „Komm, lass uns reingehen, zieh es einmal an“, schlug er vor.
    „Dafür haben wir keine
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