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Das 2. Buch Des Blutes - 2

Das 2. Buch Des Blutes - 2

Titel: Das 2. Buch Des Blutes - 2
Autoren: Clive Barker
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weiter seiner Verurteilung entgegen.
    Einen Stock höher kniete im dunkel werdenden Zimmer Mary Florescu neben dem kleinen McNeal und streichelte seinen blutbesudelten Kopf. Sie wollte erst aus dem Haus gehen, um Hilfe zu holen, wenn sie völlig sicher war, daß seine Schinder nicht zurückkehren würden. Ganz still war es, bis auf das Summen eines Jets, der sich in der Stratosphäre seinen Weg Richtung Sonnenaufgang bahnte. Sogar der Atem des Jungen ging nun ruhiger und gleichmäßig. Keine Lichtaura umstrahlte ihn. Alle Sinne arbeiteten normal. Gesicht. Gehör, Tastsinn.
    Der Tastsinn.
    Sie berührte ihn jetzt, wie sie es nie zuvor gewagt hatte, strich mit den Fingerspitzen ganz, ganz leicht über seinen Körper, ließ ihre Finger über die von Erhebungen aufgerauhte Haut gleiten wie eine Blinde beim Lesen der Blindenschrift. Jeder Millimeter seines Körpers war in vielen Handschriften mit winzig kleinen Wörtern bedeckt. Selbst unter dem Blut konnte sie die peinlich genauen Linien, die die Wörter in ihn geritzt hatten, wahrnehmen. Sie konnte sogar beim verdämmernden licht gelegentlich einen Satz lesen. So war es ohne den leisesten Zweifel, und sie wünschte, mein Gott, sie wünschte so sehr, sie wäre nicht darauf gestoßen. Und doch, nach einem Leben bloßer Erwartung, hier war sie endlich: die Offenbarung des Lebens jenseits des Fleisches, ins Fleisch selbst geschrieben.
    Der Junge würde überleben, soviel war sicher. Schon trocknete das Blut, heilten die abertausend Wunden. Immerhin war er gesund und stark: Er würde keinen schwerwiegenden körperlichen Schaden davontragen. Natürlich war seine Schönheit für immer dahin. Von jetzt an würde er bestenfalls Neugier erwekken und schlimmstenfalls Abscheu und Grausen hervorrufen.
    Aber sie würde ihn beschützen, und er würde mit der Zeit lernen, sie zu verstehen und ihr zu vertrauen. Unauflösbar waren ihre Herzen aneinandergebunden.
    Und in absehbarer Zeit, wenn die Worte auf seinem Körper verschorft und vernarbt wären, würde sie ihn lesen. Mit grenzenloser Liebe und Geduld würde sie den Geschichten nachspüren, die die Toten auf ihm erzählt hatten.
    Der Bericht auf seinem Unterleib, abgefaßt in zierlicher Kursivschrift. Die Lebensbeichte, die sich in gestochen eleganten Druckbuchstaben über Gesicht und Kopfhaut hinzog. Die Geschichte auf seinem Rücken und die auf seinem Schienbein, auf seinen Händen.
    Sie würde sie alle lesen, alle veröffentlichen, noch die allerletzte Silbe, die unter ihren anbetenden Fingern aufglänzte und hervorsickerte, damit die Welt die Geschichten erführe, die die Toten erzählen.
    Er war ein Blutbuch und sie sein einziger Übersetzer.
    Mit Anbrach der Dunkelheit stellte sie ihre Wache ein und führte ihn, nackt, in die lindernde Nacht hinaus.
    Und hier sind die ins Buch des Blutes geschriebenen Geschichten. Ertragreiche Lektüre, lieber Leser, wenn’s beliebt!
    Sie sind eine Karte jener dunklen Transitstrecke, die über den Bezirk des Lebens hinaus zu unbekannten Reisezielen führt.
    Wenige werden sich für sie entscheiden müssen. Die meisten werden friedlich lampenhelle Straßen entlanglaufen und aus ihrem Dasein hinausgebetet und hinauskaressiert werden.
    Aber eine kleine Schar, eine auserwählte kleine Schar wird vom kalten Grausen heimgesucht werden, weggerissen und fortge-schleppt auf die Transitstrecke der Verdammten.
    Also dann ertragreiche Lektüre, lieber Leser!
    Noch eins: Am besten macht man sich aufs Schlimmste gefaßt, und ratsam ist es, erst einmal die Gangart zu erlernen, ehe einem die Luft für immer wegbleibt.
    Für Leon Kaufman war die Stadt keine unbekannte Größe mehr. Die Hochburg der Wonnen, so hatte er sie immer genannt in den Tagen seiner Unschuld. Aber da hatte er noch in Atlanta gewohnt, und New York war damals eine Art gelobtes Land gewesen, in dem alles nur Erdenkliche möglich war.
    Jetzt wohnte Kaufman schon dreieinhalb Monate in der Stadt seiner Träume, und die Hochburg der Wonnen war augenscheinlich alles andere als wonnig.
    War’s wirklich nur ein gutes Vierteljahr her, seit er aus dem Port-Authority-Busbahnhof herausgetreten war und die 42. Straße Richtung Broadway-Kreuzung hinaufgeschaut hatte?
    Ganz schön kurz die Zeit für den Verlust so vieler lieb gehätschelter Illusionen.
    Jetzt war ihm schon der bloße Gedanke an seine kindische Arglosigkeit peinlich. Er zuckte förmlich zusammen, wenn er sich dran erinnerte, wie er dagestanden und hinausposaunt hatte: »New York, ich
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