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Darwinia

Darwinia

Titel: Darwinia
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schrecklichen Winter vor knapp einem halben Jahrhundert. Wo die Kuppel über dem Brunnen stand und die Erscheinungswelt ein Loch hatte.

 
Kapitel Neununddreißig
     
     
     
    Matthew Crane hatte die Deckenlampe ausgeschaltet. Er saß in einer düsteren Ecke seines Büros. Die Schreibtischlampe hatte er brennen lassen.
    Der Schreibtisch war leer geräumt. Im Lichtkegel der Lampe lag nur ein einziger Gegenstand: eine Pistole, ein altmodischer Revolver, blank und makellos.
    Lily stierte auf die Waffe.
    »Sie ist geladen«, sagte Matthew Crane.
    Er klang wie durch Gallerte hindurch, undeutlich, gurgelte die Worte. Lily ertappte sich, wie sie die Entfernung zum Schreibtisch taxierte. Konnte sie es vor ihm schaffen? Oder würde sie alles nur schlimmer machen? Was wollte er von ihr?
    »Keine Angst, mein kleiner Floh«, sagte Crane.
    »Kleiner Floh?«, sagte Lily.
    »Wie sagt der Volksmund? Große Flöhe haben kleine Flöhe im Pelz und die kleinen noch kleinere. Weil Sie mein kleiner Floh waren, Lily. Das waren Sie doch, oder?«
    Sie tastete nach dem Lichtschalter. »Lassen Sie das«, sagte Crane scharf.
    Lily ließ die Hand sinken. »Ich weiß nicht, wovon Sie reden?«
    »Zu spät. Zu spät für uns beide, fürchte ich. Ich habe auch meine Spione. Der kleine Floh hatte einen noch kleineren im Pelz, als er gestern das Museum besuchte.«
    Ich könnte weglaufen, dachte Lily. Ob er schießen würde? Schwer zu sagen. Der chemische Geruch stieg ihr zu Kopf.
    »Wir wissen, was wir sind«, sagte Crane. »Das macht es einfacher.«
    »Macht was einfacher?«
    »Über uns nachzudenken«, sagte Crane mit köchelnder Stimme. Er hustete, krümmte sich und richtete sich auf, bevor Lily seine Schwäche ausnutzen konnte. »Wir beide all die Jahre, großer Floh und kleiner Floh, und wozu das alles? Was hab ich erreicht, Lily? Ein paar Waffenlieferungen umleiten, ein paar Staatsgeheimnisse hüten, ein bisschen dazu beitragen, dass die Regierung mit Kriegen beschäftigt ist oder mit Grundsatzentscheidungen und jetzt ist die große Schlacht im Gange…« Im Düsteren sah es aus, als zucke er die Achseln. »Weit weg von hier. Mein Gott, warum hast du mich verlassen?«
    »Das ist nicht lustig.«
    »Da haben Sie Recht. Ich verändere mich, kleiner Floh, und ich weiß nicht wieso.«
    Er stand auf und kam ein bisschen näher an die Lampe heran – an die Pistole.
    Er ließ den lose umgehängten Überzieher fallen. Der Gestank wurde penetrant. Lily konnte die gekörnte Haut unter dem ramponierten Hemd sehen, die schwärenden Stellen, die Haut im Gesicht, die abblätterte wie sprödes Seidenpapier. Der Schädel nahm eine neue Form an, der Kiefer schob sich vor, die Hirnschale verzerrte sich unter Inseln aus Blut und Haar und dickem, gelbem Plasma.
    Lily rang nach Luft.
    »So schlimm, kleiner Floh? Ich habe keinen Spiegel. Doch, ich glaube, es ist so schlimm.«
    Ihre Hand tastete nach der Tür.
    »Wenn Sie weglaufen«, sagte er, »dann schieße ich. Ja, wirklich. Ehrenwort. Machen wir doch lieber ein Spiel daraus.«
    Sie hatte noch nie solche Angst gehabt – doch, einmal, in dieser schrecklichen Nacht in Fayetteville. Damals hatte der Gegner wenigstens menschlich ausgesehen. Crane sah nicht wie ein Mensch aus, nicht mehr, nicht einmal im trüben Widerschein dieser Lampe.
    »Ein Spiel?«, hauchte sie.
    »Vergessen Sie, wie ich aussehe, kleiner Floh. Das hätte eigentlich nicht passieren dürfen, noch nicht jedenfalls. Ich kann es nicht ändern. Mein Gott komischerweise auch nicht.«
    »Welcher Gott?«
    »Mein abwesender Gott. Abwesend. Das ist der Punkt. Diese leise, kleine Stimme schweigt. Hat vermutlich anderswo zu tun. Unvorhergesehene Notfälle. Die wir euch verdanken. Aber dieser… Prozess… « Er streckte die blasenwerfenden Hände aus. »Es tut verdammt weh, kleiner Floh. Und so sehr ich um eine kleine Linderung bete… die Gebete bleiben ohne Antwort.«
    Er musste husten, ein nicht enden wollender, gurgelnder Anfall. Rosarote, wässrige Tropfen landeten auf dem Schreibtisch, dem Teppich, ihrer Bluse.
    Jetzt, dachte Lily, doch ihre Beine waren wie gelähmt.
    »Bald«, sagte Crane, »bin ich nicht mehr ich selbst. Ich hätte es wissen müssen. Die Götter, was immer sie sonst noch sind, haben Appetit. Mehr als alles andere. Matthew Crane soll keinen Deut länger leben als du, kleiner Floh. Du siehst also, in welcher Lage ich bin.«
    Er machte einen schlurfenden Schritt nach vorne. Die Beine knickten an den falschen Stellen ein. Fleisch platzte
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