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Darwinia

Darwinia

Titel: Darwinia
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die Tür zur nächsten aufschließen würde und zur übernächsten.
    Während die anderen ins Haus gingen, um sich ins Wohnzimmer zu kauern, saß Guilford furchtlos auf der bröckelnden Hintertreppe. Fürs Erste fand er das Alleinsein beglückend, der neue Pullover hielt ihn warm, sein Atem verdampfte in der strahlenden, stillen Helligkeit des Himmels.
     

     
    Später – in den Monaten, in den Jahren, im Jahrhundert danach – würde man unzählige Vergleiche ziehen. Sintflut, Armageddon, das jähe Aussterben der Dinosaurier. Aber das Ereignis an sich, das schreckliche Wissen darum und die Verbreitung dieses Wissens unter den Menschen, die es noch gab, war ohne Beispiel.
    1887 hatte der Astronom Giovanni Schiaparelli eine Karte der Marskanäle gezeichnet. Jahrzehnte lang wurde die Karte kopiert und verfeinert und für bare Münze genommen, bis bessere Linsen die Kanäle als Illusion entlarvten, es sei denn, der Mars selbst hatte sich inzwischen verändert, was nicht mehr von der Hand zu weisen war angesichts dessen, was der Erde widerfuhr. Vielleicht hatte sich so etwas durchs Sonnensystem geschlängelt, etwas wie ein Faden, getragen von einem Lufthauch, etwas Kurzlebiges aber unvorstellbar Gewaltiges, das die kalten Planeten des äußeren Systems berührte, durch Gestein, ewiges Eis und leblose Formationen fuhr. Und mit seiner Berührung alles veränderte. Sich auf die Erde zubewegte.
    Der Himmel war voller Zeichen und Omen gewesen. 1907, die feurige Tunguska-Kugel. 1910, der Halleysche Komet. Einige, wie Guilford Laws Mutter, hatten ihn für das Ende der Welt gehalten. Schon damals.
    In jener Märznacht war der Himmel über dem nordöstlichen Atlantik heller als er es beim Vorbeiflug des Kometen gewesen war. Stundenlang hatte der Horizont blau und violett gelodert. Das Licht, so die Zeugen, war wie eine Wand gewesen. Es sei aus dem Zenit gekommen. Es teilte das Meer.
    Von Khartum aus war es zu sehen (allerdings am nördlichen Himmel) und von Tokio aus (schwach und gen Westen).
    Von Berlin, Paris, London, von allen europäischen Hauptstädten aus umspannte das kabbelnde Licht den gesamten Himmelskreis. Hunderttausende von Zuschauern sammelten sich in den Straßen unter der kalten Effloreszenz. Eine Sturzflut von Berichten überschwemmte New York – bis vierzehn Minuten vor Mitternacht.
    Um 11.46 Eastern Time verstummte plötzlich und aus unerfindlichen Gründen das atlantische Kabel.
     

     
    Es war die Epoche der legendären Schiffe: die Great White Fleet, [2] die Cunard Line und die White Star Line; die Teutonic, die Mauretania, imperiale Monstrositäten.
    Zugleich brach das Zeitalter von Marconi Wireless an. Das Schweigen des atlantischen Kabels hätte man noch mit diversen einfachen Katastrophen erklären können. Das Schweigen der landgestützten europäischen Funkstationen war weitaus ominöser.
    Man jagte Funksprüche und Fragen über den kalten, sanften Nordatlantik. Es gab kein CQD [3] und auch kein neuartiges SOS, nicht einen einzigen Seenotruf, obwohl bestimmte Schiffe aus unerfindlichen Gründen nicht ansprechbar waren, so die Olympic der White Star Line und die Kronprinzessin Cecilie der Hamburg Amerika Linie – Flaggschiffe, auf denen sich eben noch die Reichen aus einem Dutzend Nationen an der überfrorenen Reling gedrängt hatten, um das Phänomen zu sehen, das derart bunte Reflexe über das winterdunkle und glasige Meer streute.
    Noch vor Tagesanbruch verschwanden die spektakulären und unerklärlichen Himmelslichter urplötzlich, flohen vom Horizont wie die brennende Sichel einer Sense. Als die Sonne aufging, war der Himmel über dem größten Teil der Großkreisroute turbulent. Das Meer war rastlos, der Wind böig und über Tag zuweilen heftig. Jenseits von 15° westlicher Länge und 40° nördlicher Breite herrschte absolute und ungebrochene Stille.
     

     
    Das erste Schiff, das die Grenze überschreiten sollte, die von den New Yorker Nachrichtenagenturen bereits ›The Wall of Mystery‹ genannt wurde, war die ältliche Oregon. Das Schiff der White Star Line kam von New York und war unterwegs nach Queenstown und Liverpool.
    Truxton Davies, der amerikanische Kapitän, empfand die Dringlichkeit der Situation, auch wenn er sie nicht besser verstand als jeder andere. Er misstraute dem Marconi-System. Die Funkausrüstung der Oregon bestand aus einem klobigen Funkensprüher von knapp hundert Meilen Reichweite. Botschaften konnten verstümmelt werden; Gerüchte über Katastrophen waren oft
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