Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Darwinia

Darwinia

Titel: Darwinia
Autoren: authors_sort
Vom Netzwerk:
legte er die Watte auf, wickelte die Stelle kreuz und quer und streifte den blutbraunen Ärmel darüber.
    Er brauchte ein neues Hemd. Was nun? Sollte er Lily zu einem Herrenausstatter schicken?
    Irgendwas war schiefgelaufen, das sagten ihm nicht nur seine Nägel und die Wunde und das nervtötende Schweigen seiner inwendigen Gottheit. Crane spürte es buchstäblich in den Knochen. Alles tat ihm weh. Ihm war, als verwerfe sich der Erdmantel, als höre er das Getriebe krachen, das die materielle Welt in Gang hielt.
    Die Vorboten der Schlacht, dachte er, der Augenblick des Triumphs naht, ein neues Zeitalter bricht an; wie Magma werden sich die Götter aus dem verborgenen Tal in Europa ergießen und aus den Gebeinen der Barbaren ihre Paläste errichten, und er, Crane, würde unsterblich sein und in alle Ewigkeit seine Baronie regieren, die eroberte Erde…
    So hatte es seine Gottheit versprochen.
    Was war schiefgelaufen?
    Vielleicht gar nichts. Nur dass er, Crane, auseinanderfiel.
    Er hielt seine nagellosen Finger in die Höhe, zehn plumpe, rosarote Würstchen.
    Auf dem Schreibtisch lag eine Schicht von Haaren.
     

     
    Diesen Morgen blieb Matthew Crane in seinem Büro und ließ alle Termine absagen. So oft, wie er Lily anrief, hätte er längst verblutet sein müssen; er verlangte neue Mullwickel, Mopp und Eimer, einen ganzen Beutel Verbandswatte. (»Schnell«, als es um den Beutel ging. »Und seien Sie um Himmels willen diskret.«)
    Gut gesagt, dachte Lily, wenn man flaschenweise Pine-Sol beim Hausmeister erbetteln muss.
    Crane nahm alles durch einen Türspalt entgegen, der schmäler nicht hätte sein können; Lily durfte nicht hinein. Doch selbst aus dem Spalt schlug ihr beißender Geruch entgegen, eine Mischung aus Ammoniak, Bleichmittel und Nagellackentferner. Barb und Carol rümpften die Nase, starrten auf ihre Schreibmaschine und sagten kein Wort.
    Pünktlich um halb fünf verließen die beiden das Büro. Lily räumte eben ihren Schreibtisch auf, als der Apparat schnurrte. Sie war allein in dem geräumigen Außenbüro; Teppichboden, Deckenvertäfelung und versenkte Lampen dämpften den Hall. Hinter dem einzigen Fenster ließ das Tageslicht bereits nach. Ihr Gummibaum ließ die Flügel hängen.
    Heb jetzt nicht ab, dachte Lily. Nimm einfach deine Handtasche und geh.
    Doch die Person, die sie so akribisch erschaffen hatte, diese pflichtbewusste Drohne, die ungeliebte Frau mittleren Alters, die mit ihrer Arbeit verheiratet war – diese Person würde ihren Chef nicht ignorieren.
    Ihr ging durch den Kopf, was Guilford bei ihrem kurzen Aufenthalt in Fayetteville über Großvater erzählt hatte. Großvater war Drucker gewesen, in Boston, und er war so sehr mit seinem Pflichtgefühl verwachsen gewesen, dass er bei dem Versuch, seine Werkstatt zu erreichen, erschlagen worden war – dabei hatte die Werkstatt seit einem Monat keinen zahlenden Kunden mehr gesehen und die Hungertumulte in der Stadt waren in vollem Gange gewesen.
    He, Großvater, dachte Lily. Ging es dir genauso, als du dich gegen den Mob gewehrt hast?
    Sie hatte den Hörer schon in der Hand. »Ja?«
    »Bitte kommen Sie in mein Büro«, sagte Matthew Crane.
    Die Stimme klang heiser und schwerfällig. Lily blickte auf die geschlossene Innentür. Sie ahnte nichts Gutes.

 
Kapitel Siebenunddreißig
     
     
     
    An der Spitze seiner blutigen Spur, die er auf dem Lehmboden unter den Salbeikiefern hinterließ, näherte sich Elias Vale der heiligen Stadt.
    Die raue darwinische Wildnis war nicht sein Fall. Die Gottheit lenkte seine Schritte, hatte ihn vom Verschiebebahnhof in Perseverance über primitive Zechenanlagen, unbefestige Straßen und Kieswege in die unerschlossene Wildnis geführt. Sie ließ ihn einen weiten Bogen machen um die ausgebleichten Knochenriffe der Insektenatolle, ließ ihn Quellwasser finden und Unterschlupf in den kalten, klaren Herbstnächten. Und sie war es vermutlich auch, die ihm dieses Gefühl von Entschlossenheit, Unversehrtheit und Gewissheit einflößte.
    Bis auf den Tag hatte sie ihm nicht erklärt, warum er so plötzlich seine Haare und Nägel verlor oder wieso seine unsterbliche Haut beim kleinsten Kratzer aufplatzte und abhanden kam. Seine Arme waren übersät von nässenden Wunden, die Schultern pochten vor Schmerzen; sein Gesicht – das er zuletzt in einem eiskalten Tümpel gesehen hatte – schien an den Narben auseinanderzufallen. Seine Kleidung war steif von getrockneten Absonderungen. Ein stechender, chemischer Gestank ging
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher