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Darling Jim

Darling Jim

Titel: Darling Jim
Autoren: Christian Mork
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auf dem Bürgersteig direkt vor meinem Fenster ein paar Leute stehen sehen. Sie starrten auf mein Fenster, auch der komische kleine Briefträger mit dem schiefen Lächeln. Er sieht immer grüblerisch und nachdenklich aus, und sein Grinsen ist Dauergast in seinem Gesicht, auch seit Moira aufgehört hat, ihn hereinzubitten.
    Er weiß es.
    Ich bin mir sicher, dass er Bescheid weiß. Er will es sich nur nicht eingestehen. Aber was hätte ich selbst geglaubt, bevor diese Geschichte begann? Dass ein Mord dazu führen kann, dass man die eigene Familie einsperrt und ermorden will? Wahrscheinlich nicht. Und ich weiß auch, dass der Briefträger nichts tun wird. Man glaubt nämlich nie das, was man mit den Augen sieht. Man vertraut auf sein Bauchgefühl und vergleicht es mit seinen eigenen Erfahrungen. Deshalb sagen die alten Damen, die jahrelang neben Serienmördern gewohnt haben, den Zeitungen auch immer, sie hätten den Täter für »einen unauffälligen, höflichen jungen Mann« gehalten. Menschen weigern sich, an die Präsenz des Bösen zu glauben, und suchen immer nach dem »Guten im Menschen«. Ich und Rosie wissen es inzwischen besser. Wenn ein Brunnen voller schwarzem Teer ist, wird man auch am Grund keine frischen Blumen finden.
    Vor zwei Wochen, als ich sicher war, dass Tantchen Moira gerade neben der Eingangstür darauf wartete, dass der Briefträger die Post einwarf, habe ich die Vorhänge beiseitegezogen und gewinkt, als er die Stufen zur Haustür hochging. Er blinzelte und zögerte einen Augenblick. Ich konnte ihn durch die Vorhänge sehen und betete, er würde sich umdrehen, die Straße hinunterrennen und die verdammten Bullen rufen. Aber er vertraute nur seinen Augen, da bin ich mir sicher. Und seine Augen sahen ein Stück Spitze flattern, das der Wind bewegt hatte. Nicht mich. Die Post wurde ausgeliefert und wir nicht. Wenn er jetzt vorbeiläuft, wendet er den Blick bewusst von meinem Fenster ab und eilt mit schnellen Schritten zum Briefschlitz. Damit macht er es sich leichter, mit seinem schlechten Gewissen zu leben. Und das kann man ihm eigentlich nicht vorwerfen. Man muss ja schließlich mit sich selbst klarkommen, oder?
    Also muss ich uns retten. Mit meinem zugespitzten Schraubenzieher, falls mir nichts Besseres in die Hände fällt, bevor es so weit ist.
    Moment.
    Halt mit mir den Atem an. Mach keinen Mucks.
    Ich kann sie unten hören. Sie wühlt in ihren Schubladen, und ich höre das Klirren von Metall auf Metall. Scheren? Oder Messer. Kannst du es hören? Wie ein Drache, der klirrend die Zähne wetzt. Sie sollte längst im Bett sein, es ist schon nach halb zwei Uhr morgens. Irgendwas stimmt hier nicht. Meistens fängt sie erst nach dem sogenannten Frühstück damit an, zu schreien und zu brüllen.
    Hm - jetzt ist es wieder still. Aber sie brütet irgendetwas aus, darauf wette ich. Vielleicht wird sie schon heute Nacht oder morgen versuchen, dieses Zimmer aufzubrechen. Ich weiß also nicht, wie viel Zeit uns bleibt. Als ich dieses Buch letzte Woche unter ihrer Bibel gefunden und gestohlen habe, dachte ich, wir hätten noch mindestens drei Wochen. Aber um ehrlich zu sein, klingen mittlerweile drei Tage realistischer.
    Aber ich verspreche dir eines: Ich werde so lange schreiben, bis ich meine Hände nicht mehr bewegen kann. Sie muss mir diesen Stift schon aus den Fingern reißen, und dazu muss sie zuerst an meinem Schraubenzieher vorbei. Mach dir ruhig Notizen, wenn du willst. Vielleicht erinnere ich mich nicht in der richtigen Reihenfolge an die Ereignisse, obwohl ich mich bemühe, dir alles genau so zu erzählen, wie es geschah. Wir werden uns nie begegnen, du und ich, aber es ist mir wichtig, dass du mir vertraust. Hab Geduld, ich werde dir alles erzählen.
    Und eines musst du gleich erfahren, damit du nicht glaubst, wir seien unschuldige Lämmchen. Unschuldig sind nur kleine Kinder, denen noch nie eine Lüge über die Lippen gegangen ist.
    In einer Hinsicht hat Tante Moira recht.
    Wir sind Mörderinnen, das ist so wahr wie das Zittern meiner Hand über diesem verdammten Blatt. Und ich weiß, dass das eine Sünde ist, und freue mich wahrhaftig nicht darauf, auf der anderen Seite dafür geradestehen zu müssen, aber ich bereue es nicht. Es gibt richtige und falsche Tode, genau wie es nicht nur Unschuldige gibt, sondern auch Menschen, die den Tod verdienen. Wir hatten die Wahl, das möchte ich betonen. Nur Feiglinge und Weicheier erfinden, wenn sie erwischt werden, Geschichten darüber, dass Gott oder
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