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Darling Jim

Darling Jim

Titel: Darling Jim
Autoren: Christian Mork
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Wald aus seiner erbärmlichen Zeichnung erinnerte, und setzte sich wieder an seinen Tisch.
    Gleich öffnen, auf jeden Fall. Das hätte schließlich jeder so gemacht. Aber das Licht der alten Schreibtischlampe, die er sich neulich aus Mr. Raichoudhurys geheimem Vorrat an Büromaterialien neben den Säcken für Überseepost »geliehen« hatte, enthüllte weitere Worte auf dem Papier, und seine Hände erstarrten. Der Umschlag war unfrankiert, weshalb er auch in dem Käfig gelandet war. Die Adresse lautete nur:
    Irgendjemand, Postamt, Townyard Lane, Malahide.
    Niall drehte den Umschlag noch einmal um und kniff wie ein alter Diamantschleifer die Augen zusammen. Jetzt erkannte er, dass auf dem braunen Papier noch eine zweite gekritzelte Botschaft stand. Es musste geregnet haben, als der Umschlag eingeworfen worden war, denn die Schrift war verwischt, aber noch lesbar. Die Botschaft war ein Gebet, der letzte Wunsch einer Seele auf dem Weg in eine bessere Welt an einen Fremden. Die schiefe, krakelige Botschaft lautete:
    Wir sind bereits verloren. Lies diese Geschichte nur, damit wir nicht vergessen werden.
    Inzwischen hätte Niall das leichte Zittern seiner Hände auch nicht mehr abstellen können, wenn er es versucht hätte. Natürlich hatte er die Zeitungsartikel gelesen und wusste Bescheid über die sogenannte Schlacht im zweiten Stock, in der Fiona gegen das Monster kämpfen musste, das sich als freundliche Frau getarnt hatte. Wie hätte er sich weigern können, ihrer schriftlichen Beschwörung Folge zu leisten? Er begann, den Umschlag zu öffnen, und hatte gerade den Umriss eines schwarzen Gegenstandes im Inneren erspäht, als er hinter sich eine dröhnende Stimme hörte, begleitet von knallend aneinander geschlagenen Absätzen wie auf dem Exerzierplatz.
    »Mr. Cleary, seien Sie bitte so freundlich und erklären mir, was hier los ist!«
    Niall drehte sich um und erblickte die aufrechte, Furcht einflößende Gestalt des Allerobersten Postangestellten Mr. Raichoudhury, dessen dunkle Tunika bis weit über seinen Adamsapfel hinauf zugeknöpft aus. Er wirkte damit wie ein übereifriger Parkplatzwächter und nicht wie der Offizier, der er heimlich so gerne gewesen wäre. Die hochgewachsene, asketische Gestalt schritt durch den Raum und deutete mit einem sorgfältig manikürten Fingernagel auf den Boden, auf dem immer noch einige lose Blätter verstreut lagen. Er benahm sich, als hätte er das Kommando über Legionen von Söldnern, dabei waren es nur zwei, und Mrs. Cody war heute krank gemeldet.
    »Ihre Einstellung erfüllt mich mit großer Besorgnis, Mr. Cleary, das sage ich Ihnen ganz offen. Was um alles in der Welt machen Sie überhaupt so spät noch hier, wenn ich fragen darf?« »Zeichnen, Sir.«
    »Schon wieder?«
    »Tut mir leid, Sir.«
    Mr. Raichoudhury stand jetzt so dicht vor Niall, dass dieser die Gürtelschnalle sehen konnte, die der ältere Mann von seinem Ururgroßvater geerbt hatte, »einem Kämpfer im Dienste von Ayub Khan« bei einer glorreichen Schlacht gegen einen Kriegsherrn irgendwann im zweiten Anglo-Afghanistankrieg Mitte des 19. Jahrhunderts. Einmal hatte der schlaksige Abteilungsleiter ein vergilbtes Foto am seiner Brieftasche geholt und es im Büro herumgezeigt. Das Foto zeigte einen Mann, der Mr. Raichoudhury sehr ähnlich sah und stolz auf einem prächtigen Pferd thronte. Er trug einen gestreiften Turban, eine gefährlich aussehende Lanze und starrte den Fotografen so bedrohlich an, als wolle er ihn gleich aufspießen. »Er war Offizier des 23. Bengalischen Kavallerieregiments«, hatte sein Nachfahre der äußerst desinteressierten Mrs. Cody erklärt. Die Gürtelschnalle war immer auf Hochglanz poliert und zeigte ein kompliziertes Wappen mit dem Motto »Lieber Tod als Schande« oder so ähnlich, soweit Niall sich erinnern konnte.
    Im Moment ging es dem Nachfahren des bengalischen Lanzers jedoch nicht so sehr um Tod, sondern um die Erhaltung der Disziplin am Arbeitsplatz. Er betrachtete den schäbigen Schreibtisch mit einem Ausdruck, als bereue er es, diesem jungen Mann einen Arbeitsplatz gegeben zu haben, an dem dieser nach Feierabend offenbar Schindluder trieb. Dann fiel sein Blick auf die geöffnete Käfigtür, und seine Miene spiegelte deutlich wider, dass er sich in diesem Moment nichts sehnlicher wünschte als die Lanze seines Vorahnen.
    »Was zum Teufel ist das ... « Er eilte zum Käfig und schloss vorsichtig die Tür. Dann wirbelte er herum und fixierte Niall mit einem strengen Blick, der
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