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Daraus lassen sich ein paar Erzählungen machen

Daraus lassen sich ein paar Erzählungen machen

Titel: Daraus lassen sich ein paar Erzählungen machen
Autoren: Taras Prochasko
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tägliche Leben nicht von der täglichen Literatur zu trennen. Das hat die Literatur bereichert. Das kann das Leben verändern.
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    Der Sommer durchläuft gewisse Phasen, in denen wir plötzlich denken: Jetzt ist richtig Sommer. Glaubt man aber den Erkenntnissen der Phonetik, so ruft allein das Wort »Lito«* [ * Ukrainisch: Sommer ] – ohne weitere Attribute – Assoziationen hervor, die man mit den wenigen Wochen von Ende Juli bis Mitte August in Verbindung bringt. Was eigentlich paradox ist, denn das ist gar nicht mehr der richtige Sommer. Auch wenn es sein Höhepunkt ist. Am intensivsten, weil fast schon vorbei. Nicht der Herbst und nicht der dunkle Winter, sondern dieser Abschnitt des Jahres erscheint mir als der traurigste im ganzen Jahr. Diese Tage sind jener höchste und vollkommenste Punkt, an dem man nur ganz kurz im Gleichgewicht bleiben kann. Und zugleich wissen wir, daß sich das Gleichgewicht in eine bestimmte, uns bekannte Richtung verlagern wird. Denn, wie wir in der Schule lernen, die Tage werden kürzer, die Nächte länger, die Sonne erwärmt die Erde weniger stark …
    Heute wie vor zwanzig oder mehr Jahren wird mir Mitte August der Gedanke an die Schule unerträglich, wenn noch Sommer ist, aber bereits … Viele Jahre gab es das nicht, es hat einfach nicht existiert. Die Kinder waren klein und deshalb so, wie man sie haben will. Sie waren unabhängig. Jetzt haben sie Ferien. Wenn ich sie im Wasser des Gebirgsbaches spielen sehe, muß ich daran denken, wie sehr sich diese fröhlichen Körper von denselben Kindern unterscheiden, die ich, sagen wir, Mitte Dezember am Nachmittag nach der Schule in der Stadt treffe. Ich stelle mir vor, daß mir dann, Mitte Dezember, nicht in den Sinn kommen wird, in den lieben Wesen jene Wildfänge zu sehen, die wenige Monate zuvor eins waren mit dem sommerlichen Naß des Gebirgsbaches. Meine Phantasie wird sich schwer tun, und anfangs werde ich nur mit Mühe jene Züge in ihnen erkennen, die mir nächsten Sommer von einem Moment auf den anderen wieder vollkommen natürlich erscheinen werden.
    Jedes Jahr fahren wir mit den Kindern zu unserem Häuschen in den Bergen. Jedes Jahr nehmen wir uns vor, so lange wie möglich zu bleiben. Jedes Jahr kommt es anders. Aber es gab noch kein Jahr, in dem wir nicht dort gewesen wären. Sobald wir ankommen, sagen die Kinder, wie gut es ihnen geht, was für Kinder nicht allzu typisch ist. Sie begrüßen ihre geliebten Betten, das Haus, die Bäume. Sie begrüßen den Fluß.
    Diesen Sommer hatte ich eine seltsame Idee: Ich wollte unseren ganzen Sommer aufschreiben, alle Tage und alles Gesagte. Die Idee tauchte ein paar Tage nach unserer Ankunft auf, ich begann zu überlegen, was sich in diesen Tagen bereits ereignet hatte, die Kinder riefen mir verschiedene Fragmente aus dem Alltag ins Gedächtnis. Dann schlugen sie vor, ein oder zwei Tage einfach im Bett zu bleiben und nicht zu sprechen, damit die Chronik die echte Zeit einholen könne.
    Zwei Stunden am Anfang des Sommers waren genug, um zu verstehen, daß es keine Chronik geben würde. Mir wurde klar, daß sie die Erzählung, die Geschichte, die ich für sie schreiben wollte, in Wirklichkeit gar nicht brauchten. Und das Wichtigste für mich selbst niederzuschreiben erschien mir unangemessen. Die dritte Variante wäre eine Art Lehrbuch gewesen, was alles endgültig verkompliziert hätte. Und die Gefahr mit sich gebracht hätte, daß es sich als vollkommen unbrauchbar erweist. Als schädlich sogar, es ist nämlich beängstigend, in einem Lehrbuch das zu lesen, was man dem Lehrbuch nur voller Angst anvertraut hätte, denn ich zweifle an der Übertragbarkeit meiner Erziehungsmethode, die es in Wirklichkeit gar nicht gibt. So etwas kann mit dem normalen Lehrplan niemals konkurrieren. So etwas wird nicht einmal in Septemberwerken erwähnt, die davon handeln, wie jemand die Sommerferien verbracht hat. Solche Dinge kann man nicht einmal als positive Erfahrungen werten. Sie sind eine Gefahr für die Gesellschaft. Indem diese Erlebnisse an die eigene Person gebunden sind, entziehen sie dem erwachsenen Menschen ein Element sozialer Strukturiertheit. Sie erinnern an Jungen- und Mädchenschätze, Reliquien aus der Kindheit, nach Jahrzehnten wiedergefunden. Sie sind das, was nirgends Verwendung findet, aber doch nicht weggeworfen wird. Sie sind die schwerste Last der Daseinsfreude. Eine schreckliche Verpflichtung des menschlichen Fortbestehens im zeitlichen Kontinuum.
    Jeden Morgen erzählten
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