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"Dann iss halt was!": Meine Magersucht – wie ich gekämpft habe – wie ich überlebe (German Edition)

"Dann iss halt was!": Meine Magersucht – wie ich gekämpft habe – wie ich überlebe (German Edition)

Titel: "Dann iss halt was!": Meine Magersucht – wie ich gekämpft habe – wie ich überlebe (German Edition)
Autoren: Christian Frommert , Jens Clasen
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laufe. Das Treppensteigen, vor allem mit Lasten wie zum Beispiel nach dem Einkauf, ist oft kaum möglich. Dabei hat mir schon eine Nachbarin geholfen, weil sie grob geschätzt so in etwa 800 Prozent fitter war als ich – sie war 83 und ist leider kürzlich verstorben.
    Ähnlich schmerzhaft ist es zu sitzen, zu knien oder einfach mal vor lauter Erschöpfung auf dem Rücken am Boden zu liegen. Überall bohren sich die Knochen von innen in das widerstandsunfähige Fleisch, das immer weniger wird.
    Das alles mache ich trotzdem, weil ich es doch früher auch immer tat. Gewohnheiten, Reflexe. Ich achte nicht auf den neuen Körper, weil ich im Kopf noch den alten und damit genügend Polster habe.
    Der Stift fällt zu Boden, ich beuge mich nach links über die Schreibtischstuhllehne – und krach, Rippenbruch. Es schmerzt, es ist lästig. Der Schmerz und die Last müssten doch genügen, mich zur Umkehr zu bewegen? Aber nicht doch. Ich ertappe mich dabei, wie ich im Geist Essen abwiege und versuche, keine »Energie in mich zu lassen«. Stattdessen immer sofort dann alle Kraft zu investieren, sobald ich wieder welche verspüre. Das Hirn rotiert dann und fragt: »So, was liegt an? Los jetzt!«
    Dann lege ich los, ich mache wie verrückt irgendetwas und zwar sofort – bis die Kraft weg ist. Bis zum Umfallen. Dann – in diesem Zustand matter, antriebsloser Zerstörtheit – empfinde ich Zufriedenheit.
    Denn jedes Mehr an Energie wirft sofort die bange Frage auf:
    »Zugenommen?«
    Und auf diese schneidende Frage meiner inneren Inquisition kann es, darf es immer nur eine Antwort geben: »Nein!«.
    Da fällt mir auf: Wenn ich von »machen« und »tun« rede, klingt das so energiegeladen. Völliger Quatsch. Alles dauert 20 Minuten länger als früher. Früher eben, in der Zeit, als ich stets lieber zehn Minuten zu früh dran war als nur 30 Sekunden zu spät. Ich hasse es, zu spät zu kommen, aber ich ertappe mich dabei, es in Kauf zu nehmen. Sollen die anderen doch Rücksicht nehmen. Ich muss mich schließlich erst noch wichtigen Fragen widmen. Zum Beispiel: Was ziehe ich an? Draußen hat es bitterkalte 20 Grad. Ich brauche also Unterhemd, T-Shirt, Hemd, Pullunder, mindestens. Jacke noch. Kappe. Die Schichten übereinanderzutürmen ist mir eine Last, sie zu tragen erst recht. Von meinem morgendlichen Einkauf im Laden um die Ecke komme ich nicht vor 90 Minuten zurück, weil alles – inklusive mir selbst – wie in Zeitlupe läuft. Ich bewege mich in den Regalen ganz langsam, mache Päuschen, lese natürlich alle Etiketten, Aufkleber, Beipackzettel. Nährwerte, Kalorien, und überall sehe ich Fett, Fett, Fett!
    Aber damit kann von einem gemächlichen oder gar geruhsamen Leben keine Rede sein. Bei meinen Leben in Slow Motion bewege ich mich am Limit, eiskalte Schweißausbrüche, Schnaufen, Schwindelgefühl inklusive. Denn ich bin alles andere als erholt.
    Nachts schlafe ich höchstens 45 Minuten am Stück, denn ich muss mindestens viermal auf die Toilette. Magersucht heißt eben nicht nur Fettabbau, sondern Radikalabbau. Auch Muskeln frisst Anna gnadenlos weg, wie die des Harnhalteapparats. Was durchläuft, läuft auch hinaus, in schlimmsten Zeiten ungebremst. Sie will wieder raus, die Flüssigkeit, die ich literweise in mich hineinpumpe. Ich werde also auch des Nachts am Laufen gehalten. Immer auf dem Sprung. Tiefschlaf verboten.
    Aber auch ohne diese Bettflucht käme ich nicht zur Ruhe. In mir tickt es. Ich kann nicht ausruhen. Ich muss etwas tun, tun, tun. Wer rastet, rostet vielleicht nicht – aber er verbrennt auch nichts. Und was nicht verbrannt wird, könnte sich ja anlagern.
    So liege ich wach im Bett und zähle die Minuten, bis es endlich 5.30 Uhr ist, das Morgenmagazin beginnt und ich endlich einen Grund habe aufzustehen. Natürlich könnte ich auch die ganze Nacht fernsehen – aber das ist doch krank. Das Morgenmagazin wird für »normale« Leute gemacht, also ist das eine »akzeptable« Zeit zum Aufstehen. Ich fühle mich sozialkompatibel, normal. Und ich habe endlich Ablenkung.
    Die brauche ich, damit ich bei meiner morgendlichen Gymnastik mein eigenes Schnaufen und Knochenknacken nicht höre.
    Ja, natürlich mache ich Sport. Natürlich muss ich mich bewegen. Auch für mich gilt der Treppensteigerspruch: Jeder Schritt hält fit, jede Stufe verbrennt Kalorien! Treppensteigen und Gymnastik sind nur der Anfang. Zum Frühstücksfernsehen setze ich mich aufs Ergometer. Früher tat ich das nur, um die Muskulatur zu lockern.
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