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"Dann iss halt was!": Meine Magersucht – wie ich gekämpft habe – wie ich überlebe (German Edition)

"Dann iss halt was!": Meine Magersucht – wie ich gekämpft habe – wie ich überlebe (German Edition)

Titel: "Dann iss halt was!": Meine Magersucht – wie ich gekämpft habe – wie ich überlebe (German Edition)
Autoren: Christian Frommert , Jens Clasen
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jede Stunde, jede Minute.
    In denselben Supermärkten, in denen ich täglich diese Kämpfe mit Zahlen und Werten austrage, sehe ich auch die andere Seite.
    Zeitschriften, die versprechen, ihre Käufer »sofort schlank« zu machen, ihnen anbieten, »zehn Kilo in vier Wochen« abzunehmen, und dabei »ganz normal zu essen«. Ich stehe als Gerippe davor und frage mich, wer ist eigentlich kranker – ich oder die?
    Wie viel Millionen Euro hamstern diese Diätbuchautoren, die Macher der Boulevard- und Fitness-Blätter, die, ausnahmslos jede Woche exklusiv und neu, die ultimativen Diäten anpreisen, »Abnehm-Irrtümer« geißeln, und fette Gewichtsabnahmen exorbitanten Ausmaßes versprechen? Die Bilder zeichnen davon, wie Mann und Frau auszusehen haben? Wer bremst die eigentlich mal in ihrem anmaßenden, übergriffigen Wohlfühl-Diktat? Wissen die nicht, dass so etwas auch schiefgehen kann, und zwar nicht in dem Sinn, dass die verlorenen Pfunde wiederkommen – sondern in dem, dass einer oder eine immer mehr und immer noch mehr Pfunde verliert? Wann endlich lernt unsere Gesellschaft die Magersucht als solche anzuerkennen und nicht als vorpubertäres Kleinemädchengetue abzutun? Wann wird man einsehen, dass diese Sucht eine Suche ist? Eine verzehrende Sehnsucht nach Liebe, nach Auswegen, nach Ruhe, nach Unbeschwertheit, nach Zuversicht, nach Geborgenheit, nach Zukunft, nach sich. Es ist die einzige Sucht, in der man einen Stoff nicht im Übermaß konsumiert. Was man stattdessen bis zum Zusammenbruch konsumiert, ist das Nichts.
    Meine Suche hat an jenem Weihnachtstag im Treppenhaus begonnen – auch wenn ich selbst das zu diesem Zeitpunkt noch nicht wahrhaben wollte. Ich machte noch eine ganze Weile weiter mit meinem bizarren Leben als Hungerkünstler. Auch heute, da ich diese Zeilen schreibe, bin ich noch nicht annähernd geheilt. Damit das noch einmal ganz klar wird: Hier geht es nicht um jemanden, der es geschafft hat, eine bemerkenswerte Menge Gewicht zu verlieren und jetzt über ein paar Zipperlein jammert.
    Magersucht entspringt in Teilen auch einem Schlankheitswahn, aber sie hat mit Schlanksein nichts zu tun. Auf Fotos, auf denen ich nach landläufiger Meinung »schlank« bin, halte ich mich für unerträglich, unermesslich fett. Und wer mich nackt sieht, denkt unweigerlich an Gefangene im Hungerstreik. Ich aber schaue auf das gleiche Bild von einem Mann, zucke kühl mit den Schultern und frage mich: »Was haben die nur?«
    Streng genommen ist es die Summe vieler hässlicher, unerträglicher Kleinigkeiten, die mir zu schaffen macht.
    Darf ich also vorstellen: Ihr Gastgeber.
    Bei gleichbleibender Größe bin ich nach wie vor dürr. Ich gehe dieses Wagnis, mich auf die Waage zu stellen, erst gar nicht mehr ein, denn ich weiß, ich bin seit dem Dezember 2009 schwerer geworden – ich will gar nicht genau wissen wie viel. Egal, wie viel es ist, ob 43 oder 48 Kilo – es wäre ein Schock für mich. Der könnte dafür sorgen, dass ich erst einmal drei Tage lang gar nichts esse. Oder drei Wochen. Also belassen wir es bei der Feststellung, dass ich dringend zunehmen müsste.
    Um das etwas mehr zu veranschaulichen: Es gibt keine Klamotten, die mir passen, sogar Leggings schlottern an mir herum. Also trage ich oft Mädchen-Jeans. Annähernd passende Hosen konnte ich eine ganze Zeitlang nur noch in der Teenager-Abteilung der Jeans-Läden kaufen. Größe 26/27. Mir passen theoretisch die Jeans meiner 16 Jahre alten Nichte. Aber irgendetwas muss ich ja anziehen, um mich vor Blicken zu schützen.
    Und nicht nur vor Blicken. Denn das Schlimmste ist die Kälte.
    Seit 45 Monaten habe ich kalte Füße und Hände. Ich habe Wasser in den Füßen, das immer mehr statt weniger wird und die Beine so schwer macht, dass ich sie wegen fehlender und einer zudem hinten verkürzten Oberschenkelmuskulatur kaum noch heben kann, ohne mit den Armen nachzuhelfen.
    Ständig habe ich irgendwelche schmerzenden Wunden an Beinen, Händen, Armen oder anderswo, weil keinerlei Fettschicht die Haut mehr schützt und ihr damit Heilfleisch zur Verfügung stellt. Meine Hände sind übersät mit Wunden. Meine Haut ist wie Pergamentpapier. An den Fußknöcheln reißt sie auf, weil sie sich dort durch das viele Wasser dehnt. Meine Haut ist überall trocken, spröde und schuppt, die Haare werden immer dünner, heller und fallen nach dem Waschen büschelweise aus.
    In Schuhen zu laufen ist schmerzhaft, eine Qual ist es, barfuß zu gehen, weil ich quasi auf den Knochen
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