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Dann gute Nacht Marie

Titel: Dann gute Nacht Marie
Autoren: Susanne Becker
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würde, den gesamten Samstag auf Knien vor Schränken und Schubladen zu verbringen. Die graue Jogginghose mit den bereits ausgebeulten Knien würde das in jedem Fall verkraften, und auch ihr fast komplett durchgescheuerter Hosenboden würde den Erfolg des Projekts »Lebensende« in keinem Fall beeinträchtigen. Dazu ein leichtes baumwollenes Sweatshirt in Schwarz; ein zu farbenfrohes Outfit schien Marie dem Ernst der Lage kaum angemessen. Hinzu kamen dicke Wollsocken, die sie gerne so weit wie möglich über die Hosenbeine der Jogginghose zog, um die Beine zu wärmen, aber vor allem, um die hübschen Wollsocken besonders zur Geltung zu bringen. Außerdem erinnerte sie diese Variante, Socken zu tragen, entfernt an die Woll-Stulpen diverser Ballettschülerinnen beim Training. Wahrscheinlich bereute sie es eben doch ab und zu, die Ballettstunden schon nach vier Jahren mit acht aufgegeben zu haben. Und da sie meistens allein in ihrer Wohnung war, konnte auch niemand ihren seltsamen Aufzug mit Kritik oder Spott belegen.
    Zunächst verschaffte sich Marie einen akribisch genauen Überblick über die zu zensierenden Lebensbereiche, indem sie eine ausführliche To-do-Liste erstellte.
Mit Block und Kugelschreiber im Anschlag machte sie es sich auf dem Sofa im Wohnzimmer bequem und versuchte, ihre noch recht diffusen Gedanken zu ordnen. SORTIEREN. Die Reihenfolge der Aufgaben war jetzt noch nicht so wichtig - was wann zu erledigen war, wollte sie später entscheiden. Liebesbriefe, Tagebücher und Fotos kamen als Erstes auf die Liste. Es folgten Bücher und die Video- und DVD-Sammlung - da war genügend dabei, was nicht jeder unbedingt sehen musste. Auch in ihrem Laptop würde sie wohl gewaltig ausmisten müssen, bevor er in fremde Hände geraten konnte. Als Nächstes schrieb sie »Klamotten« und »Unterwäsche«, danach »Badezimmer/Kosmetik« auf den Block. Als sie die erste Bestandsaufnahme schon für beendet erklären wollte, fielen ihr noch die Musik-CDs und der Terminkalender ein. Auch sie wurden notiert.
    Im Anschluss daran zog Marie einen dicken Strich unter die nun schon recht ansehnliche Liste und überlegte, was es außer der Zensur ihrer persönlichen Dinge sonst noch zu bedenken galt. Die Todesart war natürlich ein ganz wichtiger Punkt bei einem Selbstmord, ebenso wie der Todesort und -zeitpunkt. Sie sah sich in ihrem Wohnzimmer um. Falls diese Wohnung am Ende den Zuschlag als perfektes Ambiente bekommen sollte, musste sich hier wohl auch noch einiges tun. Die meisten der Möbel besaß sie schon seit ihrer Studienzeit, und in den letzten sechs Jahren - so lange wohnte sie hier - hatte sie so gut wie nichts mehr verändert. Marie machte ein dickes Ausrufezeichen hinter das Stichwort »Todesort« und vermerkte so ihre eventuellen Umgestaltungspläne. Und selbst wenn sie sich gegen die Wohnung als Platz für das perfekte Sterben entscheiden sollte, so war es wenig sinnvoll,
deren Inhalte, aber nicht die Räume selbst aufzumotzen. Schließlich war der Satz »Zeige mir deine Wohnung, und ich sage dir, wer du bist« nicht von der Hand zu weisen. Also fügte sie kurzerhand den Stichpunkt »Wohnung« noch zur Liste der zu zensierenden Bereiche hinzu. BEENDEN.
    Als Verpflegung für ihr Stöber-Vorhaben bereitete Marie sich anschließend eine große Tasse Rooibostee zu. Als der Wasserkocher verheißungsvoll brodelte, zog sie den Stecker aus der Steckdose, übergoss den Teebeutel mit dampfendem Wasser und gab nach einigen Minuten noch etwas Milch dazu. Der süße Duft zog verführerisch durch die Wohnung, als wolle er die Bewohnerin zum Weiterleben animieren. Keine Chance bei Marie. Sie öffnete eine Packung Hafer-Schoko-Kekse und machte sich an die Arbeit. SUCHEN …
    Die doch etwas dürftige Sammlung an Liebesbriefen fand sich nach intensiver Suche schließlich in einer fast schon antiken Schuhschachtel unter dem Bett. Die nicht unerhebliche Staubschicht darauf verursachte schon bei der kleinsten Bewegung Hustenreiz. Der Inhalt einiger darin enthaltener Poetik-Ergüsse verflossener Verehrer leider auch, wie Marie bedauernd feststellen musste. Wie gut, dass sie rechtzeitig die Spreu vom Weizen trennte. Sie schrieb »Staubwischen« auf die To-do-Liste und wandte sich den Briefen zu.
    Gerade zog sie einen weiteren Umschlag aus dem mit einer roten Schleife zusammengebundenen Päckchen. Wie kitschig, unbeholfen gestammelte Liebesschwüre eines Fünfzehnjährigen mit einer auch noch roten Samtschleife zusammenzuhalten! Die
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