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Dann gute Nacht Marie

Titel: Dann gute Nacht Marie
Autoren: Susanne Becker
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fünfunddreißig Jahren zu nichts gebracht hatte. Wenn sie sich schon zu Lebzeiten nie etwas hatte anmerken lassen, sodass weder Eltern noch Freunde noch Kollegen ahnten, wie unzufrieden sie mit ihrer Gesamtsituation war, dann sollte es nach ihrem Tod erst recht keiner erfahren. Im Gegenteil: Es wäre wirklich zu dumm, wenn ausgerechnet nach erfolgreichem Abschluss des Projektes »Marie« noch dessen Schwachstellen ans Tageslicht kämen. Die Diskrepanz zwischen einem Selbstmord und dem scheinbar perfekten Leben, die dem einen oder anderen Hinterbliebenen merkwürdig vorkommen konnte, kalkulierte Marie mit ein. Sie würde ihr und ihrem Ende
etwas Geheimnisvolles verleihen, das sie im Nachhinein nur aufwerten konnte. Lange würde man sich fragen, was hinter dem rätselhaften Suizid der Marie Hartmann wirklich gesteckt hatte. Darauf, dass nicht der Tod, sondern ihr Leben manipuliert war, würde vermutlich niemand kommen. Und das war auch gut so.
    Aber wie nahm man sich effektiv und doch auch ziemlich eindrucksvoll das Leben? HILFE. Da war zunächst die Wahl des Ortes. Sie sollte wohlüberlegt und gut durchdacht werden. Werther tat es am eigenen Schreibtisch, das ist zwar intellektuell, aber ziemlich einfallslos und zudem völlig unspektakulär. Madame Bovary starb in ihrem Bett - naheliegend, aber wenig eindrucksvoll.
    WWW.SELBSTMORD.DE? Vermutlich Fehlanzeige. WWW.SUIZID.DE? Höchstwahrscheinlich auch.
    Die Telefonseelsorge, die schließlich Erfahrung mit diesen Fragen haben musste, würde wohl auch keine Auskunft geben.
    Was also tun? Marie entschloss sich, über eine derart wichtige Angelegenheit nicht vorschnell und unvorbereitet zu entscheiden, sondern auf eine wie auch immer geartete Eingebung zu warten. Auf ein oder zwei Tage kam es jetzt schließlich auch nicht mehr an. Vielmehr war es von großer Bedeutung, dass die Aktion durch genaueste Planung und gründliche Recherche zu bestmöglicher Wirkung gebracht wurde. Wenn schon Ende, dann richtig. SPEICHERN.
    Vorher konnte oder sollte man vielleicht noch die Wohnung in Ordnung bringen. Es war ja allgemein bekannt, dass nach einem selbst gewählten Tod die lieben Freunde und Verwandten nichts Besseres zu tun hatten, als auf der Suche nach Erklärungen, Entschuldigungen
und Entlastungen in der Wohnung und damit der Intimsphäre des Verstorbenen zu graben. Und das konnte, war man nicht darauf vorbereitet (wie im Falle einer Kurzschlusshandlung), für den Verblichenen unangenehm bis peinlich werden. Kein Problem allerdings für den auf das posthume Stöbern Vorbereiteten. Ein Grund mehr für einen gut organisierten Selbstmord.
    Zunächst einmal wollte sich Marie ihre gesamte Korrespondenz vornehmen. Die Telefonrechnungen würden komplett ins Altpapier wandern. Schließlich ging es niemanden etwas an, wann sie wie lange mit wem telefoniert hatte. Oder, wichtiger noch, wann wie lange mit wem nicht .
    »Sieh dir das an«, würde es sonst heißen, »seit diesem Tag hat sie sich ganz zurückgezogen. Das musste ja eines Tages so enden!« Nein, sie wollte keine Erklärungen frei Haus liefern. So einfach sollten sie es nicht haben. LÖSCHEN.
    Ihre Liebesbriefe waren ebenfalls nicht für fremde Augen bestimmt. Einige eigneten sich wiederum ganz gut, das Image, sozusagen posthum, wieder etwas aufzupolieren. War da nicht zum Beispiel ein recht passables Gedicht eines frühen Verehrers im Gymnasium? Falls es sich als einigermaßen intelligent herausstellte, konnte das auch positiv auf sie abstrahlen. Ebenso wie die wenigen ganz gut gelungenen Liebesbriefe aus der Beziehung zu ihrem Studienkollegen Ben, der es beruflich immerhin schon recht weit gebracht hatte. Seine Liebesschwüre sollten nach ihrem Ableben sogar gefunden werden. Das verlieh ihr einen Hauch seines Ruhmes, und ihm nahm es etwas von dieser Unantastbarkeit, an der er seit Beginn seiner Karriere arbeitete. AUSWÄHLEN.

    Sämtliche sorgfältig verborgen gehaltenen Videokassetten und DVDs dagegen, die so manchen einsamen Abend geselliger hatten werden lassen und für einige Stunden den Schleier eines glücklich-sorgenfreien Lebens über die Wohnung geworfen hatten, mussten natürlich weg. Keiner durfte wissen, dass manche Tage nur mit Hilfe einer kitschigen Liebesschnulze aus den Fünfzigerjahren oder einer schlecht gemachten Komödie zu ertragen gewesen waren. »Sie hat sich aus der Realität in eine Traumwelt geflüchtet«, würden sie andernfalls sagen, »das musste ja eines Tages so enden!« RÜCKGÄNGIG.
    Auch eine
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