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Dann gute Nacht Marie

Titel: Dann gute Nacht Marie
Autoren: Susanne Becker
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    DOKUMENT 1. Der Tag, an dem Marie beschloss, sich das Leben zu nehmen, war ein schöner, sonniger Herbsttag. Keiner dieser Tage, an denen man schon beim Aufstehen von einem grauen, wolkenverhangenen Himmel entmutigt wird. Auch keiner der Tage, an denen man bereits auf dem Weg ins Büro von einem kräftigen Regenschauer überrascht wird, der im Handumdrehen die Arbeit von mindestens einer Stunde sorgfältigster Morgentoilette zunichte macht.
    An einem solchen Tag würde man dann, durchnässt und mit hängender Frisur, sicher schon im Treppenhaus dem gut aussehenden Kollegen aus dem Vertrieb begegnen, auf den man bereits seit einiger Zeit ein nicht ganz uninteressiertes Auge geworfen hat.
    Nein, einer dieser Tage war es nicht. Schon deshalb nicht, weil es ein Samstag war. Ein Samstag mit blauem Himmel und kleinen, unbedeutenden weißen Wölkchen. Mit buntem Herbstlaub, das in der Sonne glänzte und den grauen Asphalt mit einem leise raschelnden, farbenfrohen Teppich bedeckte.
    Es war ein Tag, der einem so gar keinen Grund gab, mit dem Leben nicht absolut zufrieden zu sein. Erwachte man am Morgen aber trotzdem mit diesem unbestimmt nagenden Gefühl im Bauch, dann musste das zwangsläufig an einem selbst liegen. Da konnte der Tag nun
wirklich nichts dafür, fand Marie. SPEICHERN UNTER … MARIE.
    Wenn man selbst an einem nahezu perfekten Samstag nicht glücklich durch Herbstwälder spazieren oder gemütlich in einem Straßencafé in der Sonne sitzen konnte, war das schon ein recht akzeptabler Grund, sich umzubringen, fand Marie. Schließlich konnte sie nicht ewig darauf warten, dass sich etwas wirklich Entscheidendes änderte, was ihrem Leben einen Sinn gab, für den es sich lohnte weiterzumachen. SPEICHERN. Dass sie zum Beispiel im Supermarkt am Süßigkeiten-Regal den Mann ihres Lebens traf, der ihr half, die heruntergefallenen Pralinen einzusammeln, und sie anschließend fragte, ob sie am Abend schon was vorhabe. So oder so ähnlich hatte sich Marie das erste Zusammentreffen mit ihrem Traummann immer vorgestellt. Es war ihr aber noch nie irgendetwas passiert, das auch nur ansatzweise so romantisch gewesen wäre.
    Oder sollte sie sich vielleicht ewig abmühen, die Speckröllchen loszuwerden, die sie von der Idealfigur eines Werbemodels trennten und die sich bis jetzt jeder noch so wirksamen Diät hartnäckig widersetzt hatten? Wenn man bei jeder brandneuen Schlankheitskur, die von einer der vielen Frauenzeitschriften angepriesen wurde, feststellte, dass man sie schon erfolglos ausprobiert hatte, dann war das durchaus ein recht akzeptabler Grund, sich umzubringen, fand Marie.
    Schließlich konnte sie nicht ewig darauf warten, dass sie eine hübsche, geräumige Wohnung in der Innenstadt fand, die auch noch bezahlbar war. Oder darauf hoffen, dass irgendjemand in der Firma ihre bisher verborgen gebliebenen Fähigkeiten entdecken und zum Anlass für ein
lukratives Jobangebot nehmen würde, was der Anfang einer wunderbaren Karriere wäre. Schließlich konnte sie nicht ewig im Kino bei jedem Leinwand-Happy-End voller Selbstmitleid in Tränen ausbrechen und sich anschließend mehrere Tage als lebensunfähiges Mauerblümchen fühlen, bloß weil das Drehbuch des Films der Heldin nicht nur die schlankere Taille, sondern auch den scheinbar perfekten Mann schenkte. Und schließlich war es kein Dauerzustand, dass das einzige männliche Wesen, mit dem sie es in den letzten Jahren zu so etwas wie einer festen Beziehung gebracht hatte, ihr Kater Kasimir war. Der war zwar in seiner Treue und Anspruchslosigkeit als Partner kaum zu übertreffen, in einigen anderen Punkten ließen seine ehelichen Qualitäten allerdings - naturgemäß - zu wünschen übrig.
    Also Schluss mit dem sehnsüchtigen Schielen nach dem hübschen Lebenspartner der Bürokollegin. Schluss mit den neidischen Augenwinkel-Blicken auf die appetitliche Figur der jungen Frau in der U-Bahn. Schluss mit dem reflexartigen Umdrehen nach dem gut aussehenden Familienvater im Schwimmbad. Also endgültig Schluss mit den ewigen Vergleichen, denen man doch sowieso nie standhalten konnte. Das setzte einen nur unter Druck und führte zu nichts, außer vielleicht zu schlechter Laune. Und das wiederum war schon ein recht akzeptabler Grund, sich umzubringen. SPEICHERN.
    Oder sollte sie etwa jahrzehntelang auf eine Veränderung hoffen, um dann mit achtzig festzustellen, dass sie bereits mit zwanzig ihrem Leben hätte ein Ende setzen können, ohne etwas Nennenswertes versäumt zu haben?
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