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Dann gute Nacht Marie

Titel: Dann gute Nacht Marie
Autoren: Susanne Becker
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konnte. Als Günther aber selbst nach drei Monaten keinerlei Anstalten machte, sich weiter vorzuwagen, machte sie Schluss.
    In dieser Zeit hatte er sich zum Verfassen eines einzigen Liebesbriefs durchringen können, den Marie nun in Augenschein nahm: »Ich muss die ganze Zeit an Dich denken und kann nachts nicht schlafen vor Sehnsucht.« Nicht schlecht, aber auch nicht gerade neu. »Du bist das schönste Mädchen der ganzen Schule.« Aha, vielleicht doch nicht so ungeeignet. »Gestern Abend mit Dir war sehr schön.« Okay … Aber was war das? Ganz unten, etwas oberhalb der ungemein schwungvollen Unterschrift (sah aus wie stundenlang geübt), entdeckte Marie den Satz, der den Brief unmittelbar von der Bestsellerliste auf
die Abschussliste verbannte: »Merci, dass es Dich gibt!« Oh nein! Derartige Plattheiten mochten vor neunzehn Jahren noch weniger abgegriffen gewesen sein - heute war so etwas definitiv untragbar. So musste auch Günthers Machwerk den Weg in den Müll antreten. WOLLEN SIE DAS DOKUMENT WIRKLICH IN DEN PAPIERKORB VERSCHIEBEN? JA. ENTER.
    Die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen. So langsam wurde es Zeit, dass die repräsentativen Werke das »Töpfchen« füllten, sonst würde sie als ewig unbeachtetes Mauerblümchen in die Geschichte eingehen. Das Gedicht von Jörg war ja ganz gelungen: »Du bist mein Stern in dunkler Nacht / Was hast Du nur mit mir gemacht?/ Ich kann nicht schlafen, kann nicht essen / und kann Dich einfach nicht vergessen!/Mein Herz schlägt wild, wenn ich Dich seh / Du bist schlank wie ein junges Reh / Dein Auge glänzt wie Morgentau /Oh, bleib für immer meine Frau!« Für einen Sechzehnjährigen war das doch eine recht gute Leistung und somit als Anfang von Maries Liebesarchiv bestens geeignet.
    Die Tatsache, dass sie mit Jörg nicht gerade lange zusammen gewesen war, verschwieg Marie sogar vor sich selbst. Einige Zeit nachdem sie sich von ihm getrennt hatte, waren ihr damals seine Qualitäten schmerzlich bewusst geworden, als sich die zwei Jahre ältere Jasmin in ihn verliebte, mit der er heute verheiratet war. Seitdem verdrängte sie konsequent den Umstand, dass sie nur Schluss gemacht hatte, weil er in der Fußballmannschaft der Schule auf die Ersatzbank musste. LÖSCHEN. Als er auf der Abiturfeier zwei Jahre später eine ebenso intelligente wie witzige Rede hielt, stellte sie sich vor, wie sie ihn als seine Freundin auf der Bühne hätte beglückwünschen
können. Egal, das Gedicht jedenfalls war für s ie geschrieben worden.
    Einen weiteren Beitrag zum Archiv lieferte Ben, mit dem sie Informatik studiert hatte. Als sie das Studium begann, war er schon im Hauptstudium und im ersten Semester ihr Tutor. Er sah wirklich blendend aus und war der Schwarm aller Studentinnen. Doch nur Marie bat er schon nach der dritten Stunde, die Arbeitsblätter für die nächste Sitzung zu kopieren, nach der fünften um Hilfe bei der Erstellung seiner Homepage, und noch vor Beendigung dieses Projektes waren sie zusammen. Marie war glücklich. UNTERSTREICHEN.
    Die Tatsache, dass Ben bei den Kommilitonen äußerst beliebt war, verschaffte ihr schnell Zugang zu allen wichtigen Studentenveranstaltungen und -partys. Und da er am Informatik-Institut arbeitete, war sie auch sehr bald mit den meisten Dozenten bekannt. Hinzu kam, dass er mit ihr für Prüfungen und Referate übte. In dieser Zeit hatte Marie das Gefühl, ihr könnte nichts mehr misslingen. Das Leben schien ohne große Probleme zu meistern zu sein. Sie machte ein wirklich gutes Vordiplom und zog mit Ben in eine Zwei-Zimmer-Wohnung. Alles schien perfekt.
    Bis zu dem Abend, an dem sie extrem euphorisch von einer Besprechung mit ihrem Professor nach Hause kam und Ben mit einer seiner studentischen Hilfskräfte im Bett erwischte. In diesem Moment musste Marie erkennen, dass ihr Freund den Begriff »Hilfskraft« offensichtlich etwas freier interpretierte. Wobei er sich sonst noch helfen ließ, blieb sein Geheimnis, denn Marie zog sofort aus und brach den Kontakt ab.
    Das Einzige, was ihr von Ben blieb, waren die acht
Briefe, die sie jetzt in den Händen hielt, und eine handbemalte Spieluhr in Form eines Karussells. Marie erinnerte sich sehr gut daran, dass Ben damals einige Monate verzweifelt versucht hatte, den Kontakt zu ihr wieder aufzunehmen. Doch obwohl sie unter der Trennung unglaublich gelitten hatte, hatte es ihr Stolz nicht erlaubt, ihn auch nur ein Mal anzuhören. Die Briefe und die Spieluhr waren zu ihren Artgenossen in
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