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Danach

Danach

Titel: Danach
Autoren: Koethi Zan
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wenig gesammelt hatte, nahm ich die Schultern zurück, atmete tief durch und öffnete die Augen. Das erste Gesicht, auf das mein Blick fiel, war das von Ray, der schockiert zwischen Tracy und mir hin- und herblickte.
    »Ich kann mich nicht daran erinnern. Das ist nicht passiert«, sagte ich schließlich matt, erschöpft vom Kampf gegen meine Erinnerungen.
    Christine war nun ebenfalls vom Fenster aufgestanden und kam langsam auf mich zu. »O doch, Sarah. Es ist passiert.«
    »Und das war noch nicht das Schlimmste«, redete sich Tracy erneut in Rage. »Das alles könnte ich dir beinahe verzeihen. Wir waren unterernährt, konnten nicht mehr klar denken. Aber wenn ich mich nicht täusche, hatten wir dort unten im Keller trotzdem einen gewissen Ehrenkodex und waren einander verpflichtet. Und du hast diesen Kodex auf eine Art verletzt, die viel verstörender war als alles, was Jack uns jemals hätte antun können.«
    Ich schüttelte den Kopf und wiederholte wieder: »Das stimmt nicht.«
    »Und ob es stimmt, Sarah.«
    Für einen Moment herrschte Schweigen. Dann sagte Tracy sehr leise und wohlüberlegt, wobei sie jede Silbe klar und deutlich artikulierte: »Du hast ihm von meinem Bruder erzählt. Du hast ihm von Bens Selbstmord erzählt.«
    Nachdem sie es ausgesprochen hatte, passierte etwas Unglaubliches: Tracy fing an zu weinen. Sie weinte echte Tränen. Ich starrte sie entsetzt an. Noch nie in meinem Leben hatte ich Tracy weinen sehen. Während der ganzen langen Jahre im Keller war sie stark geblieben, hatte nie zugelassen, dass wir ihre Tränen sahen, und jetzt weinte sie hier vor uns allen, nicht wegen Jack, sondern wegen etwas, das ich getan hatte.
    » Warum? «, fragte sie schluchzend. »Das musste er nicht wissen. Ich sehe ja ein, was du damit bezweckt hast, ihm an der Folterbank zu assistieren. Du wolltest dich bei ihm einschmeicheln, damit er dir vertraut und dich nach draußen lässt. Das verstehe ich.
    Aber warum hast du ihm von Ben erzählt? Wo du doch genau wusstest, dass er diese Information gegen mich verwenden würde. Alles andere hätte ich ertragen: gefesselt, geknebelt, mit Stromschlägen gefoltert, geschlagen zu werden … egal. Aber es hat mir das Genick gebrochen, Bens Namen aus seinem Mund zu hören. Nachdem er von Ben wusste, konnte er meinen Verstand nach Belieben manipulieren und mir einreden, Bens Tod wäre meine Schuld gewesen, ganz allein meine Schuld.«
    Sie brach ab und wischte sich mit dem Ärmel übers Gesicht. Dann starrte sie mich an und verengte die Augen zu Schlitzen.
    »Und ich habe noch eine Neuigkeit für dich, Sarah. Ich weiß, dass du dich für die Einzige hältst, die bis heute leidet und kein normales Leben führen kann, aber lass dir gesagt sein, dass die ersten Jahre in Freiheit auch für mich unerträglich waren. Und das habe ich allein dir zu verdanken. Du bist schuld, dass mich die Dinge, die Jack zu mir gesagt hat, noch jahrelang verfolgt und gequält haben.«
    Sie schwieg einen Moment und schloss dann die Augen, bevor sie erneut das Wort ergriff. »Es wurde sogar so unerträglich, dass ich versucht habe, mich zu Ben auf den Grund des Sees zu gesellen. Zweimal. Und ich wäre jetzt eindeutig besser dran, wenn es mir gelungen wäre.«
    Niemand sagte ein Wort. Ich starrte zu Boden, unfähig, in ihre Richtung zu blicken, unfähig, das gerade Gehörte zu verdauen. Tracy wirkte so taff, so voller Kampfgeist. Sie schien immer die Stärkste von uns gewesen zu sein. Hatte die Erfahrung im Keller auch sie zerstört?
    Oder war ich es, die sie auf dem Gewissen hatte?
    Tracy und Christine hatten recht: Es wäre nicht nötig gewesen, dass ich Tracys Geheimnis an Jack weitergab. Warum hatte ich es dennoch getan? Meine Erinnerungen an damals waren verschwommen und gleichzeitig von schmerzhafter Klarheit. Konnte es sein, dass ich vorübergehend vom rechten Weg abgekommen war und es für meine Bestimmung gehalten hatte, mit Jack zusammen zu sein und ihm zu helfen? Ich hatte an seine verquere Sicht der Welt zu glauben begonnen. Ein kleiner Teil von mir hatte sich damit abgefunden, dass ich für den Rest meines Lebens an seiner Seite sein würde, seine sadistischen Ziele mittragen, seine perversen Bedürfnisse befriedigen würde. Vielleicht war der Glaube daran nötig gewesen, um meinen Plan in die Tat umsetzen zu können. Um Jack überzeugen zu können. Aber war ich zu weit gegangen? War ich tatsächlich übergelaufen? Hatten seine kranken Experimente bei mir etwa Wirkung gezeigt?
    »Es tut
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